Workshop: Vom Spiel-Sinn des Sinnesspiels

Lernen über die kindlichen Ressourcen "Begeisterungsfähigkeit" und "Freude"

Kindsein heißt spielen dürfen. Das Spiel ist die ureigenste Lernform für Kinder, weil es – wie keine andere Vorgehensweise – ihre Bedürfnisse einbezieht. Sind die Kleinen explorationsfreudig, gehen sie neugierig mit sich selbst und ihrer Mitwelt um. Sie sind motiviert um der Sache willen, die sie fasziniert, ihnen Handlungserfolg bringt und mitunter besser gelingt als erwartet: selbst-motiviert oder intrinsisch motiviert. Dabei springt ihr körpereigenes Belohnungssystem an. Es kommt zur Dopaminflutung im Frontalhirn. Die wiederum führt zum Ausschütten von Opioiden ebendort, welche Hochgefühl, Antriebskraft und Energie hervorbringen und positive Vernetzungen im Frontalhirn entstehen lassen (Spitzer, 2002). Derartige mentale Repräsentationen durch freudvolle, eigenständig gewonnene Erfahrungen im Denkhirn sind nötig für eine förderliche kindliche Entwicklung und für hirngerechtes Lernen.

Es bildet sich derzeit Konsens unter Wissenschaftlern darüber, dass das Dopaminsystem eine wichtige Rolle spielt bei Belohnung und auch Lernen. Müsste die Dopaminschleife nicht auch bei freudvoller Bewegung anspringen? Sicher, aber solches ist über fMRT (funktionelle Magnetfeldresonanztomografie) – reglos in einer engen Röhre gelagert – nicht messbar; vielleicht zukünftig mittels NIRS (Transcraniale Nahe-Infrarot-Spektroskopie).

Die gelungene Bewegung wird mental abgespeichert. Und der selbst erarbeitete Bewegungserfolg ermutigt zu weiteren Bewegungsvarianten, fördert neben vielfältigen Bewegungsmustern Selbstvertrauen und Wohlgefühl. Schokolade macht nur für kurze Zeit glücklich. Bewegungsfreude aber ist das Tor zu glücklichem Lernen auf lange Zeit. Darin liegt auch begründet, weshalb Sinnesspiele als basale Orientierungshilfen senso-motorisch auf der Spür-Freude-Achse und der Bewegungs-Freude-Achse wirken. So helfen sie die Ressourcen der Kleinen zu mobilisieren anstatt einer Defizitorientierung. Denn die Ressourcen im Elementar- und Primarbereich liegen vorwiegend in Begeisterungsfähigkeit, Explorationsdrang und Freude an großräumiger Bewegung.

Über Sinnesspiele freudvoll lernen:

Es gibt zwei Möglichkeiten des Spiels mit den Sinnen:

  1. Sinnesseparierung und -ausgrenzung im Kindergarten- und Grundschualter auch mit bewusstem Wahrnehmen über bestimmte Sinne. Besonders taktile Erfahrungen werden bereits ab dem Kleinkindalter mit fühlanimierendem Spielzeug und Fühlbilderbüchern; kommerzialisiert mit zum Teil fragwürdiger Sinnhaftigkeit dessen, was die Kleinen damit wirklich erspüren. Im Kindergarten folgen dann Riech- und Schmeckspiele, Klangoasen, Krabbelsäcke und Waldtage mit taktilen und vestibulären Erlebnissen bis hin zur Grundschule mit Pracours für die Sinne (Jackel, 2003).
  2. In unserem Workshop geht es um Sinnesspiele zur ganzheitlichen Selbsterfahrung, bei der die Kleinen sinnesintegrative Erfahrungen machen können, wobei ihre Nervenzellen üben im Verbund untereinander auf verschiedene Reizmodalitäten gleichzeitig zu reagieren mit dem Ziel eines multisensorischen Lernens. Dabei erleben sie sich selbst als "Sinn-voll"; voll von sinnlichem Erleben. Dies ist eine Form verständnisvollen und hirngerechten Lernens – begrifflich gefasst als sinnfassendes, Bedeutungen und Zusammenhänge begreifendes Dazulernen – , da die vielfältigen Einzelerfahrungen zu einem Objekt/Ablauf dabei in verschiedenen Großhirnarealen mental abgespeichert werden und das Gelernte vielfältig abrufbar und damit besser erinnert wird.

Persönlichkeitsentfaltung, ausgehend von der Senso-Motorik:

Ontogenetisch erfolgt die Persönlichkeitsentfaltung der Kleinen von ihrer Sensorik und Motorik aus. Denn zuerst entwickelt sich die Sensorik über die körpernahen Sinne: taktile, propriozeptive und vestibuläre Modalität. Auch das gustatorische Sinnessystem gehört dazu. Denn bei all den eben angeführten Sinnen liegen Reiz und Rezeptor im Körperinneren, weshalb sie auch Nah- oder Basissinne genannt werden. Sie bilden die körpereigene Basis, welche die Kleinen brauchen, um sich dann neugierig ihrer Mitwelt zuwenden zu können und sich auf diese neuen Außenwelterfahrungen überhaupt einzulassen. Dabei werden jetzt auch die Fernsinne gebraucht: optische, akustische und olfaktorische Modalität. Bei ihnen liegt der Reiz in der Umwelt und wird mit den entsprechenden Rezeptoren von dort "eingefangen" (= afferenter Funktionskreis), im Gehirn verarbeitet, sortiert, bewertet und abgespeichert (= intermediärer Funktionskreis) und führt zur Bewegungsantwort bis hin zu bestimmten Muskeln als Endorganen (= efferenter Funktionskreis) (Jackel, 2003, 2005).

Hier ist kein geschlossenes und tradiertes Übungsprogramm angezeigt, sondern sach- und situationsvariable Betätigungsformen für ganzheitliche Persönlichkeitsentfaltung. So entsteht eine Kreisrelation aus:

  1. präziser multimodaler Wahrnehmung und Bewegung; beide tragen zur Selbsterfahrung der Kleinen bei – hinführend zu Körperschema (ich bestehe aus / ich bin, habe) und Körperbild (realistisch: ich kann / ich fühle mich) [Senso-Motorik];
  2. Freude an der spielerischen Bewegung und sozial verträglichem Verhalten im gemeinsamen Spiel [Emotion + Soziales];
  3. planvollem Handeln, strategisch geschicktem Vorgehen und Sprache auf allen Strukturebenen als Kürzel für erlebte Handlungen und Mittel der Verständigung miteinander [Kognition].

Die Senso-Motorik im Elementar- und Primarbereich ist besonders über großräumiges Bewegungsspiel förderbar. Dabei trainiert diese Bewegung vorrangig die propriozeptiven und taktilen Rezeptoren. Sie sind neuronal repräsentiert durch ihre Vielzahl im gesamten sensorischen und motorischen Kortex. Werden die einzelnen kortikalen Repräsentationen bestimmter Körperteile ebendort stärker sensibilisiert, steigt damit ihre nervale Vernetzung. Taktile und propriozeptive Modalität fördern damit zusammen mit dem vestibulären Sinnessystem breit gefächert sowohl die Körperwahrnehmung als auch durch das mentale Abspeichern der hinzugewonnenen Erfahrungen die Leistungsfähigkeit des Gehirns.

Mit-fördern heißt Overflows nutzen von Bewegung, Sprechen und Rhythmik:

Overflow – neurophysiologisch betrachtet einerseits als das Mit-Lernen in angrenzenden Hirnregionen aufgrund der Nervenverknüpfungen subkortikaler Areale untereinander und andererseits als der häufige Gebrauch von Schnittarealen und gemeinsamen möglichen Hirnnervenbahnen ist besonders bei manuellen Tätigkeiten und Sprechen möglich und förderbar. Aus dem Eigenreflexapparat ist dazu der Palmar-Reflex bekannt als die Koppelung eines Hand-Reflexes an die Myofunktion: Saugen und Faustschluss.

Overflows von Bewegungs- und Sprachentwicklung als kreuzmodale Prozesse ergeben sich aus neuropyhsiologischer Sicht, weil Sprechen auch Bewegung bedeutet und Sprechvorgang (muskulär/Myofunktion) wie auch Bewegung neuronale Schnittareale haben. Bislang wurde in der Literatur auf diese Overflows zwar hinwiesen und deren Bedeutung für Prävention und Rehabilitation gesehen (u. a. Grohnfeldt, 2000; Jackel, 2005; Nijokiktjien, 2003), jedoch keine konkreten Schnittareale benannt, die für Sprache resp. Sprechen und Bewegung zugleich zuständig sind. Solches können jetzt Neurobiologen mit den neuen bildgebenden Verfahren tun, weil die beim Sprechen und bei Handbewegungen aktiven Hirnareale in PET (Positronenemissionstomografie)- und fMRT-Scans visualisierbar sind (Jürgens, 2002; Neuweiler, 2005).

Bei den derzeit verfügbaren funktionellen Messmethoden der Hirnforschung ist die Interpretation der so gewonnenen Forschungsergebnisse nicht leicht, nicht immer eindeutig und man benötigt ein gewisses Maß an Routine. Neurowissenschaftler sprechen daher vorsichtig von ihren Forschungsergebnissen als Hinweisen, selten von eindeutigen Nachweisen (vgl. dazu: Blakemore & Frith, 2006). Also seien auch wir derzeit mit stringenten Funktionszuweisungen an bestimmte Hirnareale bezüglich der Verarbeitung von Senso-Motorik, Sprache und Rhythmik vorsichtig und halten uns stets vor Augen, dass mit jeder Verfeinerung und jedem Fortschritt im Neuroimaging unsere heutigen Erkenntnisse möglicherweise umgeschrieben werden müssen.

Sinnesspiel ist Bewegungsspiel:

Auf der Suche nach neuronalen Korrelaten für Sinnesspiele im Kontext ganzheitlicher Selbst-, Sach- und Sozialerfahrung finden sich aufgrund biochemischer Untersuchungen und Neuroimaging Schnitt- oder Schlüsselareale von Bewegung, Sprechen und Rhythmik als gemeinsam benutzte Hirngebiete bei diesen Funktionen. Denn mit den Sinnen spielen bedeutet auch immer Bewegung und Sprechen zu spielen. Sprechen als Myofunktion der Sprache ist auch Bewegung und Gesichtsmimik wie Gestik sind motorische Abläufe. Lustige Sinnesspiele trainieren nebenbei Sprechwerkzeuge und auch sprachliche Kompetenzen wie Semantik, Phonetik/Phonologie, Syntax, Prosodie und situationsangemessenes Kommunikationsgeschick (Jackel, 2005). Derartiges Training der Sprechwerkzeuge geschieht spielerisch beispielsweise in Puste- und Blasespielen, Kirschkernwettspucken, Seifenblasen wachsen lassen und beim Ansaugen leichter Materialien mithilfe von Trinkhalmen, aber auch bei Nonsens-Singtexten wie "Drei Chinesen mit dem Kontrabass" oder zusammen mit manuellen Arm- und Handbewegungen in Klatschspielen (Jackel, 1999, 2004a; Mols & Struck, 2002, 2004).

Damit wirken Sinnesspiele auf der Sprach-Spaß-Achse kognitiv, sprechmuskelaktivierend und sozial-kommunikativ positiv; nicht zuletzt auch über Witz und Nonsens als behaltenssteigernde Implantate.

Neben vielen anderen bei Bewegung, Sprache und auch Rhythmik aktiven Gehirnarealen wird hier verkürzt und stichpunktartig lediglich ein Mainstream skizziert, wie er sich aus den jüngsten neurobiologischen Erkenntnissen von Jürgens (2002) und Neuweiler (2005) ergibt:

  • Stirnhirnimpulse (Bewegungsbefehle für absichtsvolle Tätigkeiten),
  • via prämotorischer und motorischer Kortex (generieren die konkreten Muskelabsichten; geben Impulse für Muskeln, auch Gesichts- und Artikulationsmuskeln),
  • dazu Scheitellappen (generell beteiligt an Vorbereitung und Ausführung von manuellen Handlungen, spontanem Sprechen; ruft gelernte Fingerfertigkeiten und Artikulationsmuster aus dem Gedächtnis ab),
  • via Broca-Areal (ganz wichtiges Schnittareal von Bewegung, Sprechen und Rhythmik; seine Handlungsneurone bewerkstelligen das Zusammenknüpfen motorischer Anweisungen und sequentieller Reihenfolgebewegungen in immer neuer Abfolge; nach neuesten PET- und fMRT-Scans ist Broca neben der Lautebildung auch wesentlich bei der Sinnerfassung in enger Zusammenarbeit mit dem Wernicke-Areal sowie bei Finger- und Handaktivitäten und Rhythmuswahrnehmung involviert),
  • Sprache auch zu direkter Sprechmuskel-Innervierung via Pyramidenbahn (entlang des Rückenmarks; neuronale Fasern aus prämotorischem und motorischem Kortex und Scheitellappen entlang der cerebro-spinalen Bahnung),
  • übrige Motorik über Pyramidenbahn direkt via Motoneurone (für Schultern, Arme, Hände, Finger) oder via Kleinhirn (Trainer für Bewegungspräzision) mit Rückkopplungsschleife zum prämotorischen und motorischen Kortex.

Zusammengefasst heißt das, Sinnesspiele im Elementar- und Primarbereich geben basale Orientierungshilfen auf der

  • Fühl-Spaß-Achse (wirken psycho-sensorisch positiv),
  • Bewegungs-Spaß-Achse (wirken psycho-motorisch positiv),
  • Sprach-Spaß-Achse (wirken kognitiv und sozial-kommunikativ positiv, auch über Witz und Nonsens).

Um (wieder) zu Spür-Menschen zu werden anstatt als Augen- und Ohrenmenschen zu verkümmern, sind wir im Workshop gemeinsam auf Weltreise gegangen, auf eine Weltreise zu vielerlei Sinneswahrnehmungen.

Literatur:

B

Blakemore, S.-J. & Frith, U. (2006). Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß. München: Deutsche Verlags-Anstalt.

G

Grohnfeldt, M. (Hrsg.). (2000). Grundlagen der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Stuttgart: Kohlhammer.

J

Jackel, B. (1999). Rituale als Helfer im Grundschulalltag. Dortmund: borgmann publishing.

Jackel, B. (2003). Lustige Sinnesgeschichten für kleine und große Leute. Sinnlich-sinnvolle Anregungen zum Nachdenken und Nachspielen. Dortmund: borgmann publishing.

Jackel, B. (2004a). Kinder orientieren sich. Spiele zur Entfaltung psychomotorischer Handlungskompetenz. Dortmund: borgmann publishing.

Jackel, B. (2004b). Sprache spielen mit allen Sinnen. In: Sprich mit mir! Tipps, Ideen, Informationen und viele Spiele zur Förderung der Sprachentwicklung (116-121). Bestelladresse: Mehr Zeit für Kinder e. V. (Hrsg.), Fellnerstr. 12, 60322 Frankfurt.

Jackel, B. (2005). Vom Spielsinn des Sinnesspiels in der logopädischen Arbeit mit Kindern. Forum Logopädie 2 (19), 18-23.

Jürgens, U. (2002). Neural pathways underlying vocal control. Neuroscience and Biobehavional Review. Bd. 26, 235.; zitiert nach Neuweiler.

M

Mols, D. & Struck, V. (2002). Atem-Spiele. Anregungen für die Sprach- und Stimmtherapie mit Kindern. Dortmund: verlag modernes lernen.

Mols, D. & Struck, V. (2004). Das Mundwerk. Training für die Sprechwerkzeuge. Dortmund: verlag modernes lernen.

N

Neuweiler, G. (2005). Der Ursprung unseres Verstandes. Spektrum der Wissenschaft 1, 24-27.

Njiokiktjien, Ch. (2003). Neurobiologische Prozesse der normalen Entwicklung als Basis für Vorbeugung und Behandlung. In: Flehmig, I. (Hrsg.). Kindheit heute (87-98). Dortmund: borgmann publishing.

S

Spitzer, M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Berlin / Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

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