“Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Lebendigkeit” - Lernen aus neurophysiologischer Sicht -

1. Einstieg

Was bei Kindern die stets irgendwo unbeachtet liegen gelassenen Hausschuhe sind, kommt bei Erwachsenen als unachtsam abgelegte Brille, irgentwo abgelegter Autoschlüssel und Geldbeutel daher. Hier fehlt das Sein im Hier und Jetzt, die Präsenz (oder Vigilanz), bei kleinen wie großen Ereignissen. Solche Unachtsamkeit ist kein Merkmal einer bestimmten Altersspanne. Denn sobald sich die Gedanken vorrangig in Zukunft oder Vergangenheit bewegen, ist es jedermann unmöglich, präsent zu sein; das Leben rauscht vorbei. Man erscheint “geistesabwesend”, so der Gedächtnisforscher Hans-Joachim Markowitsch (2005); oder “schusselig” (Jackel 2011) – verursacht durch fehlende Aufmerksamkeit aufgrund kognitiver Abwesenheit. “Präsent sein” (ein Ausdruck aus der Achtsamkeitsliteratur) meint darauf zu achten, was sich vor uns und / oder in uns abspielt und wirkt geistiger Abwesenheit entgegen, so der US-Mediziner Jon Kabat-Zinn 2009 und die buddhistische Erziehungsberaterin Sarah Napthali 2007. Bereits Elsa Gindler und Heinrich Jacoby aus der Lebensreformbewegung sprechen zu Beginn des 20. Jahrhunderts von “antennig-sein” als geistig mit und bei der Sache zu sein (Gindler, Jacoby; zitiert nach Ludwig 2002, S. 84, 136).

Auf dem Weg hin zu dem, was in der Meditation als Achtsamkeit oder Mindfulness bezeichnet wird, gilt es (1) zunächst bewusst die kleinen und großen Dinge der Gegenwart in sich aufzunehmen; denn nur das, was sorgfältig eingespeichert ist, kann wäh­rend des Konsolidierungsprozesses in den entsprechenden Hirnarealen auch abgespeichert (als mentale Repräsentationen abgelegt) und später wieder abgerufen wer­den (Gasser 2010, Jackel 2008a, Knowles 2007, Markowitsch 2002). Flüchtiges geht während des Einspeicherns bereits wieder verloren. (2) Aufbauend auf sorgfältigem Einspeichern unter selektiver Aufmerksamkeit gilt es zu lernen, sich von dem Gegenwärtigen aber nicht vollends vereinnahmen zu lassen, sondern sein Gehirn quasi “in die eigenen Hände zu nehmen” und meditative Wege zu finden, um auch in kritischen Situationen (z. B. bei Überforderung / Stress) auf­merk­sam und flexibel handlungsfähig zu bleiben statt ausschließlich über das vegetative Nervensystem automatisch zu reagieren (Davidson & Kabat-Zinn et al. 2003, Ott 2010, Singer & Ricard 2008).

2. Tiefenbereiche der Bewusstwerdung durch Achtsamkeit

Sich seiner Mitwelt und seiner selbst bewusst zu werden durch selektive Aufmerksamkeit (oder: Vigilanz) umfasst alle Bereiche der Persönlichkeit :

2.1 Zu begrifflichen Fassungen :

Ehe die Schrittfolge hin zu erhöhter Achtsamkeit analysiert wird, ist zunächst der zum Modewort avancierte Begriff “Achtsamkeit” resp. “Mindfulness” zu erläutern; wie ihn drei Autoren aus der Achtsamkeitsmeditation begrifflich fassen :

Quelle 1 :
“Achtsamkeit” ist ein Zustand klarer Bewusstheit, in dem die Aufmerksamkeit nicht in einem bestimmten Inhalt gefangen ist; denn heraufdringende Gedanken kann man nicht verhindern; nur sich von ihnen nicht vereinnahmen lassen und sie unbewertet wieder ziehen lassen (bindungsfrei). In diesem geistig präsenten Zustand “reiner Achtsamkeit” / “reinen Gewahr-Seins” (Ricard 2008, S. 81) kann ein Gehirn mehr auffassen als bei fo­kussierter Aufmerksamkeit, so der Molekularbiologe und buddhistische Mönch Matthieu Ricard im Dialog mit Wolf Singer, dem Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main (2008).

Quelle 2 :
Somit stellt sich Achtsamkeit dar als eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit: mit geistiger Präsenz, voll aufnahmebereit und nicht bereits vereinnahmt von bestimmten Inhalten, so der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn (2009). Geübt wird diese Achtsamkeit in der Vipassana- oder Achtsamkeitsmeditation.

Quelle 3 :
Achtsamkeit ist die Aufmerksamkeit allem gegenüber, was der gegenwärtige Augenblick beinhaltet: unsere Wahrnehmungen, Körperempfindungen, Gefühle, Annahmen und Neigungen, so Sarah Napthali in ihrem buddhistischen Erziehungsberater 2007. Damit wird Kindererziehung zu einer Art spiritueller Übung; denn Kinder zwingen Erziehende im Hier und Jetzt zu bleiben, da man als Erwachsener ständig gefordert ist von dem, was gerade wichtig ist.

Die “reine Achtsamkeit” der buddhistischen Lehre über ihr Gegenteil verständlich zu machen, heißt das “Grübeln” zu beleuchten: Das Geplapper im Kopf hört nicht auf und lässt vergangene Ereignisse erneut auftauchen und den Ärger darüber wieder hochkochen samt den vegetativen Begleiterscheinungen (Ekman 2010, Hilbrecht 2010, Jackel 2008, Ott 2010). Man ist im Teufelskreis von Ego und Selbstbezogenheit gefangen: Folglich ist man zerstreut / unkonzentriert durch die eigenen Gedankenkonstrukte und seine unstete “Hühner-Mentalität” (Jackel 2011); also das Gegenteil von ungebundener, reiner Aufmerksamkeit / von “reinem Gewahr-Sein” (Dalai Lama 2000, Singer & Ricard 2008).

Exkurs : Fallbeispiel “Pistolenschuss”
Der amerikanische Psychologe Paul Ekman und sein Team (Paul Ekman & Robert Levenson) an der University of California in Berkeley (Dalai Lama Center for Peace and Education) arrangierte folgendes Experiment :
Mehrere 100 VPs; Pistolenschuss mit Vorankündigung (binnen 5 Min.) während einer Achtsamkeitsmeditation; 2 Experimentalgruppen: (1.) Meditationsungeübte, (2.) Meditationsgeübte / tibetische Mönche.
Ergebnisse Gruppe 1 :
Bei ihnen springt trotz der Erwartungshaltung die Schreckreaktion an (Sympathikus, automatisch; gemessen anhand physiologischer Parameter wie Puls, Blutdruck, Hauttemperatur; Zusammenzucken).
Ergebnisse Gruppe 2 :
Der Schuss macht ihnen weniger aus resp. die Schreckreaktion bleibt ganz aus (ohne o. g. Parameter), da ihre Aufmerksamkeit nicht an best. Inhalte / Grübel-Gedanken gebunden ist und dort erst heraus gerissen werden muss laut Interpretation Ekmans als Versuchsleiter und Ricards als VP aus Gruppe 2 (Singer & Ricard 2008; Hilbrecht 2010). Dieses Ergebnis kann von anderen Forschern bestätigt werden; z. B. eruiert Willi Zeidler in seiner experimentellen Studie an der TU Berlin in Kooperation u. a. mit dem BION Gießen (2007), dass der Schreckreflex bereits nach 4 Wochen Meditation (Gruppe der “Kurzmeditierenden” / 1-24 Monate, Festlegung der wiss. Studie) zu schwinden beginnt; Britta Hölzel (Boston, US-Bundesstaat Massachusetts) weist nach 8-wöchiger Achtsamkeitsmeditation Veränderungen im Schreckzentrum Amygdala per fMRT auf (“nur rechts” ist bislang unerklärlich; sowieso erstaunlich, da Amygdala ansonsten hochgradig änderungsresistent).

Zur eventuell eingeschränkten Aussagekraft solcher Studien äußern sich bspw. der Musikpsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich (2008), der Journalist Heinz Hilbrecht von der ETU Zürich (2010) und der Psychologe Ulrich Ott von der Universität Gießen (2010). Sie beklagen, dass häufig Studien veröffentlicht werden, die bestimmten wissenschaftlichen Standards nicht entsprechen (vgl. “Mozarteffekt”: nicht replizierbar; oder mit methodischen Mängeln behaftet). Der Psychologe Dieter Vaitl von der Universität Gießen (2010) weist auf die eingeschränkte Aussagekraft gegenwärtig vorliegender Studien hin mit Experimentalgruppen aus Meditationsgeübten und - ungeübten: Sie messen Unterschiede; keine Kausalbeziehungen / Korrelationen [Jackel: mit zudem unterschiedlichem Signifikanzniveau]. So könnten die Meditationsgeübten auch von vornherein die Schreck-Resistenteren sein – damit wären die Unterschiede im Hirnaufbau zwischen den Experimentalgruppen nicht auf die Mentalübungen zurückzuführen (vgl. Londoner Taxifahrer-Studie), so die Autorin.] Fazit: Die vorliegenden Studien zum o. g. Untersuchungsgegenstand genügen noch nicht den erforderlichen wissenschaftlichen Standards; etwa was das Studiendesign angeht, die Unabhängigkeit der Forschungsgruppen samt ausreichenden Prä- und Re-Tests ein und derselben VP und die Erhebung von Langzeiteffekten.

2.2 Schrittfolge auf dem Weg hin zur Achtsamkeit

Achtsamkeit im Alltag / achtsam sein im Alltag bedeutet, alles, was im gegenwärtigen Moment geschieht, bewusst wahr­zunehmen – ohne zu beurteilen, so die Pädagogin Linda Lehrhaupt vom Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung in Bedburg (2011); inklusive Akzeptanz im Sinne von “geschehen lassen”, so der Psychiater Michael Huppertz (2009, 2011). Durch die Akzeptanz auch negativer Ereignisse wird keine entspannende Kuschel-Atmosphäre angestrebt; jedoch: Entspannung ist dabei eine regelmäßige Begleiterscheinung von Achtsamkeitsübungen. Andere Meditationspraktiker (Hilbrecht 2010, Napthali 2006, Rieß 2007) sowie Vertreter des neuen Teilbereiches der Psychologie , “Positive Psychologie” (orientiert am Prinzip der Achtsamkeit), gehen noch einen Schritt weiter : Vigilanz im Alltag als ein genaues Beobachten, um bedacht jeden Handgriff zu tun, führt zu einer reibungslos(er)en und damit stressfrei(er)en Alltagsbewältigung mit dem Resultat gesamt-positiver Ausrichtung: Nimm bewusst wahr, wie du läufst ... wie du abwäschst ... wie du schneidest! Diese Augenblicke achtsamer Handlungen helfen, ruhiger und gelassener zu leben und “Minikatastrophen” des Alltags zu vermeiden (Napthalie 2007, S. 62-63; vgl. auch Alltagsverrichtungen in Zen- Klöstern). Der Weg hin zu Achtsamkeit (als Schrittfolge hin zur Bewusstwerdung) beginnt jedoch nicht mit einem Schritt mitten hinein in diese Achtsamkeit.­ Der Weg muss sorgsam vorbereitet und erfolgreich Schritt für Schritt abgearbeitet werden. Der im Folgenden beschriebene “Weg der 4 As” ist nicht direkt vergleichbar mit den zehn Stufen der Versenkung in der buddhistischen Lehre, jedoch durchaus danach ausgerichtet: stark verkürzt; dafür vielleicht etwas alltagstauglicher.

Abbildung 1

Durch das Einüben und damit das Kultivieren von

  1. anhalten, bspw. als Selbst-Stopp in Angst machenden Situationen, um den Autopiloten Sympathikus zu stoppen und
  2. aufmerken (aufmerksamer werden); die Situation genau analysieren; sensorische / motorische / sozial-kommunikative / emotionale / kognitive Prozesse differenziert betrachtend), wird es zunehmend besser gelingen, dann auch
  3. achtsam und etwas mehr
  4. altruistisch (selbstloser) handeln zu können.
2.2.1 Schritt 1 : “anhalten”

Stepp 1 :
Wohlspannung für eine Weile erzielen (“Runter von der Palme”-Effekt) als erster Teil-Schritt der De-Eskalation heißt, das rein vegetativ-automatische Reagieren zu unter­bre­chen, so dass für die momentan aktuelle Situation der Frontalcortex (das “Denk­hirn”; für flexibles, planvolles Denken, Querdenken) wieder die Regie übernehmen kann mit einer Bandbreite an Handlungsoptionen. “Anhalten” meint: erst sich beruhigen (Notfallreaktion stoppen) – dann überhaupt erst an Sich-beruhigen denken können.

Stepp 2 :
Ein gelassener Zustand ist dann über Übung durch vegetatives Umschalten auf den parasympathischen Teil unseres autonomen Nervensystems mit der Zeit reflexartig herstellbar (über systematisch betriebenes Üben neuer Verhaltensweisen). Wohlspannung und Ausgeglichenheit können sich überhaupt erst einstellen, wenn innerhalb des Tagesverlaufes ein gesunder Wechsel zwischen An- und Entspannen stattfindet. Sie sind messbar über EEG in Hirnströmen, als Alphawellen mit einer Frequenz von 7-12 Hertz, und langsam-gleichmäßigem Atemrhythmus.

Abbildung 2

  1. Amygdala (tief im Schläfenlappen dem Hippocampus vorgelagert); Funktion: gehört zum neuronalen “Furchtnetzwerk”; aktiv bei Angst auslösenden Reizen; sendet Signale zum Bewerten an orbitofrontalen Cortex (OFC). Nach Hölzel et al. (2010) erfolgt ein Substanzabbau in der Amygdala (fMRT-Bild), weil die aufgeregte Hab-Acht-Haltung in Richtung Negativem jetzt länger anhaltend bis dauerhaft gedämpft ist; so die erste Langzeitstudie (Prä- und Re-Test nach 8-wöchiger Achtsamkeitsmeditation); Interpretation der Autorin: Angst auslösende Reize werden seltener und ihr neuronales Korrelat in der Dichte der Amygdala-Nervenzellen schwindet. Für Hilbrecht (2010) erscheint dieses Ergebnis äußerst erstaunlich, da die Amygdala (als Schreckzentrale auf Angst gepolt) ansonsten stark änderungsresistent auf das Entdecken vom Negativem gerichtet ist.
  2. Hippocampus; Funktion: unterstützt Gedächtnisprozesse; erinnert Erlebtes samt des emotionalen Beigeschmackes. Hippocampus weist erhöhte Dichte auf.
  3. Präfrontaler Cortex (PFC); im Stirnbereich bis SMA; hintenan liegt der vordere / anteriore cinguläre Cortex (ACC); lateral bis Scheitellappen; stirnwärts umgebörtelt mit OFC als inferiorem Teil); Funktionen: medialer präfrontaler Cortex (MFC) mit Handlungsplanung, mit Entscheidungen zu sachlichen Problemen (= kognitive Prozesse) und Bewertung von sog. “Bauchgefühlen” (aus ACC und Moralinstanz OFC) mit Ausführungsanweisung resp. -unterdrückung (= emotionale Prozesse; als Affekt und Kognition); mit Selbstbezug, Ich-Gedanken, Tagträumerei, Grübeln; mit Abruf von Erinnerungen; arbeitet zusammen mit dem vorderen cingulären Cortex (ACC) links als “Positiv-Speicher”; “biologisches Korrelat für affektive Resilienz” (Ricard 2008; vgl. Resilienz- und Salutogeneseforschung u. a. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse 2009 und Antonovsky 1997); rechts als “Negativ-Speicher” / “Hass-Straße” (Ricard 2008). Orbitofrontaler Cortex (OFC) analysiert die Signale aus der Amygdala als Trieb- und Instinktkontrolle; als Moralinstanz neu bewertend; “Sitz des Gewissens” (Roth 2003). Nach Hölzel (2010) kommt es bei Achtsamkeitsmeditation zum Substanzaufbau im linken präfrontalen Cortex (PFC) als “Positiv-Speicher”. Andere Studien ergeben zudem eine Vergrößerung im OFC (visualisiert per fMRT). Weil vegetative Reaktionen gestoppt und umbewertet werden, entsteht dort eine größere neuronale Dichte. Weitere Funktionen der durch Achtsamkeitstraining veränderbaren Areale werden in den folgenden Schritten der Bewusstwerdung angesprochen.

Abbildung 3

2.2.2 Schritt 2 : “aufmerken”; aufmerksamer werden

Ein Großteil des alltäglichen Verhaltens erfolgt nahezu automatisch in wenig bewussten routinierten Reaktionsmustern auf Bedürfniszustände und Situationen, die sich wiederholen, mit erlernten Handlungsroutinen, die folglich auf einer niedrigeren Bewusstheitsebene ablaufen (Gasser 2010, Jackel 2008b, Markowitsch 2002, 2005, Singer & Ricard 2008)­. “Aufmerken” im Sinne selektiver Aufmerksamkeit (Vigilanz) hingegen richtet sich bewusst aus auf die Beschaffenheit von gehändelten Objekten / inkl. Nahrung, auf körperliche Prozesse wie sorgfältig ausgeführte Bewegungen und Atmung (bewusst atmen und sich bewegen: siehe Schritt 3) und auf geistige Prozesse (sich ihrer gewahr werden: emotionale Reaktionsmuster und körperliche Erregungszustände erkennen)und via Selbst-Stopp-Strategie (SSS) bewusst hemmen und einen Weg zum Umdenken kennen lernen und kultivieren. Solches bedeutet, das Differenzierungsvermögen zu schärfen durch Übung plus Erfahrung (Ayan 2010, Hilbrecht 2010, Huppertz 2009, 2011, Kabat-Zinn 2009, Köhle & Rieß 2007, Ott 2010, Walach & Schmidt (2011 im Druck), Zeidler 2007). Somit ist Vigilanz (selektive Aufmerksamkeit) Voraussetzung für genaues Beobachten und bedachtes Handeln und folglich auch Voraussetzung für Achtsamkeit.

Bei hinreichender Übung (s.o. Meditation über 2 Jahre) :

  1. Im Hippocampus kommt es zu verbesserter Konzentrationsfähigkeit; geht einher mit erhöhter Strukturdichte, weil Konzentrieren die Gedächtnisleistung steigert.
  2. Thalamus als “Tor zum Bewusstsein” zeigt Struktur­ver­änderungen, weil Angst nicht mehr dominiert.
  3. Der orbitofrontale Cortex (OFC) mit Emotionskontrollen weist bei Achtsamkeitsmeditation einen Substanzaufbau durch das Um-Lernen auf, wenn einmal geprägte Reaktionen (hier: Vermeidungsstrategien unter Stress) jetzt unterdrückt werden und ein Umdenken erfolgt. Der Substanzaufbau im OFC bei Meditationsgeübten ist in wissenschaftlichen Studien aufgezeigt (per fMRT) und bedeutet, dass damit die Existenz “des 3. Auges” als wissenschaftlich nachgewiesen betrachtet werden kann.
  4. Der präfrontale Cortex (PFC) zeigt bei Achtsamkeitsmeditation einen Substanzabbau rechts, weil die Aktivitätsmuster für negative Affekte gehemmt werden: Meditierende erscheinen weniger ängstlich; unverkrampfter im Umgang mit Belastungen. Links erfolgt ein Substanzaufbau aufgrund besserer Entspannung.
  5. Der PFC arbeitet zusammen mit dem vorderen cingulären Cortex (anteriorer cingulärer Cortex; ACC) als “unvollständigem Ring” um den corpus callosum (Balken). Er verläuft stirn- und scheitelwärts mittig um den Balken; geht ringförmig weiter hinterhauptswärts als Gyrus parahippocampalis und unterhalb des Balkens und der Basalganglien (Endhirnkerne) wieder nasenwärts weiter als Hippocampus mit Amygdala. Er ist das neuronale Korrelat für das Erleben von intensiver Wut und sozialer Zurückweisung (rechts); für Liebe (links). Dabei sorgen im PFC und ACC Spiegelneuronen für erhöhtes Einfühlungsvermögen; folglich können die Gefühle anderer besser erkannt / kann auf deren Emotionen angemessener reagiert werden (altruistisch handlungsfähig nach Achtsamkeitstraining) (siehe Literatur am Kapitelende).
2.2.3 Schritt 3 : “achtsamer werden”

Geübte selektive Aufmerksamkeit (gerichtet auf die äußere wie innere Welt), wie in Schritt 2 dargestellt, führt allmählich zu einem achtsamen Umgang mit Objekten und zu einem routinemäßig achtsamen Umgang mit den Funktionsabläufen im eigenen Organismus (körperlich und geistig); z. B. achtsamer Umgang bei der Nahrungsaufnahme / Atem- u. Bewegungsachtsamkeit im Alltag: achtsam heben und tragen; Naturnähe suchen wie einen Spaziergang im Grünen (siehe “Attention Restoration Theory” / Theorie der Aufmerksamkeitswiederherstellung und “Biophilie-These” / Mensch braucht Naturerleben zur Salutogenese; siehe Wilhelm 2011); Atemachtsamkeit mit besserer Durchblutung des Frontalhirns als eine der positiven Folgen. Achtsam handeln bedeutet, erst zu denken und dann flexibel-angepasst zu handeln. Dabei führt Übung zu einer routinemäßigen Achtsamkeit (Csikszentmihalyi 2006, Ott 2010). Auf diese Weise entwickelt sich ein Gespür für den eigenen Organismus, ein sicheres Körpergefühl (vgl. Literatur im Bereich Psychomotorik; u. a. Speck 2008). Nur wer solch zuverlässiges Körpergefühl besitzt, kann sich auch erfolgreich in andere Menschen hinein versetzen und beobachtend deren Spüren, Handeln und Fühlen verstehen (Ekman 2008, 2010: “Gefühle lesen”; Jackel 2008b). Denn Spiegelneuronen können in allen motorischen, sensorischen und emotionalen Funktionskreisen das Tun und Befinden der anderen Menschen über Beobachtungen im eigenen Organismus spiegeln (= nachmachen und nachempfinden) (Bauer 2005, 2010, Jackel 2008a, 2008b, 2011, Rizzolatti & Sinigaglia 2008, Senkter & Wigger 2009). Mit Hilfe von Spiegelneuronen kann der OFC nicht nur die Bewegungen, sondern auch den Gefühlsinhalt der Körpersprache anderer Menschen auswerten. Spiegelneuronen bilden die Basis für Nachahmungsfähigkeit, für eine “Theory of Mind” (= eine Vorstellung davon, was im Kopf eines anderen vorgeht / “Vorstellung vom Geiste der anderen”, Frith, U. 1997). Die Verfasserin hingegen möchte die Vorstellung von der Körper-Geist-Einheit des Selbst und der anderen Menschen stärker zum Ausdruck bringen: Vorstellung von der eigenen Physis und Psyche und der der anderen. In der Literatur zur “Theory of Mind” (Antonovsky 1997, Caspary 2008, Förstl 2011) spricht Joachim Bauer von “emotionalen Resonanzvorgängen” (Bauer in Caspary 2008, S. 50). Der PFC macht aus den Erfahrungen der Spiegelneuronen jene “Theory of Mind”, indem er die Ursachen menschlichen Verhaltens erfasst und somit das Verhalten anderer Menschen verstehen kann. Die Verfasserin dieses Vortrages sieht in der “Theory of Mind” eine “sich selbst und andere umfassende WARUM-Erkenntnis”. Daraus ergibt sich die Fähigkeit zu Mitgefühl.

Vier Fallbeispiele :

  1. Knöchel anschlagen (= spiegelnde Spür-Neuronen) ;
  2. Kinder helfen spontan anderen Menschen bei kleinen Missgeschicken, z. B. etwas Fallengelassenes aufzuheben; Begegnung zweier Menschen auf dem Gehweg mit zielgenauen Ausweichbewegungen (weil man um den Platzbedarf / die Laufbewegungen des anderen weiß) (= spiegelnde Bewegungs-Neuronen) ;
  3. bei der Kommunikation, wenn Gestik und Mimik die Worte des Gesprächspartners komplettieren, haben spiegelnde Gefühls-Neuronen großen Anteil am Gelingen des kommunikativen Prozesses ;
  4. Fallbeispiel fehlender Empathie: unwiderstehlicher Drang eines autistischen Kindes, im Schwimmbad die Bäuche anderer Badegäste zu betasten. Fehlende Achtsamkeit bedeutet hier das Fehlen einer Theorie vom Geiste der anderen bei Autisten (Carter 2010, Frith, U. 1997).

Bei hinreichender Übung (Meditationsgeübte) “achtsamer” zu sein, bedeutet weniger automatisch im Sinne von rein vegetativ re-agierend zu handeln. Solches geht einher mit einem Substanzaufbau im Hippocampus; denn Achtsamkeit / Gelassenheit gehen bio-chemisch einher mit positiven Veränderungen auf Rezeptorebene: Nach Recherchen des Neurologen Joachim Bauer vom Klinikum Freiburg (2010) ist das Anti-Stress-Gen bei Ausgeglichenheit bio-chemisch aktiver; d. h. die zum Gen gehörigen Protein-Rezeptoren können besser wirksam werden / sind nicht blockiert wie unter Stress. (Jackel: Vorsicht vor monokausalem Erklärungsmuster angesichts der Erkenntnisse heutiger Epigenetik, da bei Störbildern viele Genvarianten zusammenspielen.) Nach Bauer kann man sich bei aktivem Anti-Stress-Gen gut beruhigen und entwickelt Widerstandskraft (vgl. Resilienzforschung); diese Anti-Stress-Blockade auf bio-chemischer Ebene bestehe auf Jahre hinaus mit geringerem Risiko für psychosoziale Erkrankungen, so Bauer: Deshalb wird ein Achtsamkeitstraining unter exakter Führung auch als klinische Verhaltenstherapie eingesetzt (forciert gelenkt unter dem Druck einer Krankheit), z. B. bei Depressionen, um weiteren Schüben vorbzueugen; vgl. Hölzel 2010, Kabat-Zinn 2009, Lehrhaupt 2011, Zeidler 2007, Walasch & Schmidt 2011 in Druck). Bei hinreichender Meditationsübung kommt es zudem zu Veränderungen im linken präfrontalen Cortex mit vorderem cingulärem Cortex: mehr Einfühlungsvermögen erscheint als Vorstufe zu altruistischem / selbstlosem Verhalten; siehe Schritt 4 :

2.2.4 Schritt 4 : etwas “altruistischer handeln”

Durch die Fähigkeit, sich besser in andere hinein zu versetzen, werden Mitgefühl und Empathie kultiviert. Folglich gelingt es, sich altruistisch(er) verhalten zu können: etwas weniger ichbezogen zu denken und zu handeln und nicht alles auf sich zu beziehen; fähig zu werden, authentisch zu leben, weil mehr Selbstbewusstsein entwickelt wurde und innere Stärke vorhanden ist zu einem Handeln aus eigener Überzeugung heraus; um individualisiert die eigene persönliche Identität behaupten zu können.

Bei Meditationsgeübten :

Im linken vorderen cingulären Cortex als “Positiv-Speicher” kommt es zu Substanzaufbau; im rechten vorderen cingulären Cortex als “Negativ-Speicher” zu Substanzabbau. Die eigene emotionale Grundhal­tung kann änderungsresistent “auf positiv” gesetzt werden; wenn es gelingt, Gefühle einfach kommen und wieder gehen zu lassen, ohne dass die Aufmerksamkeit durch sie zu stark gefangen ist.

Das Inselareal (Insula, Inselcortex, Inselrinde; tief in der Hirnrinde liegende Windung zwischen Stirn- und Schläfenlappen; Brodmann Areal 43; nahe Broca / BA 44 mit Funktionen: Informations- und Schaltzentrale für aktuelle innere Zustände des Organismus, gespeist aus Sinneswahrnehmungen samt Emotionen; mit Infos über Herzfrequenz, Temperatur, Schmerzen, Ekel und Grammatikfehler; mit Spiegelneuronen zur emotionalen Resonanz) zeigt folglich bei Achtsamkeitstraining einen Substanzaufbau und einen erhöhten Sauerstoffverbrauch im fMRT-Bild.

Putamen und Striatum (Teile der Basalganglien: graue Masse / Nervenkörper umgeben von weißer Masse mit automatisiert ablaufenden Funktionen) werden nur von besonders Meditationsgeübten genutzt zur automatisierten Aufrechterhaltung ihrer Aufmerksamkeit; mit Substanzaufbau (siehe Kap. 2.2.5).

2.2.5 Meditationsanfänger versus Meditationsgeübte

Generell sind bei Meditationsgeübten andere Areale aktiv (und haben somit größere Dichte / mehr Substanz) als bei Ungeübten, weil bei ersteren die Aufmerksamkeitsmechanismen bereits automatisiert ablaufen. Denn Automatisiertes läuft in den subcortikalen Arealen der Basalganglien ab, in Putamen und Striatum. Am prozeduralen Gedächtnis beteiligte Areale übernehmen hier, wie beim Brotstreichen oder Rad fahren. Solch automatisierte Fertigkeiten bleiben zeitüberdauernd erhalten; so auch geübte Achtsamkeit. Bei Meditationsanfängern läuft eine Achtsamkeitsübung noch unter bewusster Kontrolle der fokussierten Aufmerksamkeit ab im frontalen und parietalen Hirnrindenbereich.

Exkurs : Hirnströme
Hirnströme bei Entspannung zeigen ein anderes Frequenzband als unter Meditation; ebenso Hirnströme bei Meditationsanfängern andere als bei Meditationsprofis. Ich möchte an dieser Stelle auf die viel beschriebenen Unterschiede zwischen geübten und ungeübten Meditierenden bezüglich ihrer Hirnströme unter Meditation nur hinweisen (vgl. Hilbrecht 2010, Singer & Ricard 2008, Vaitl 2010), die da sind: hohe Synchronizität im Gammawellen-Bereich bis zu einer Frequenz von 100 Hertz bei buddhistischen Mönchen (weit über das übliche Gamma-Feuermuster von 40 Hz. hinaus) versus Ungeübten im Alphawellen-Band (7-12 Hertz) und verweise auf die Kernaussage des Psychologen Dieter Vaitl von der Universität Gießen (2010): Es liegen insgesamt noch zu wenige neurowissenschaftliche Erkenntnisse insbesondere zu den höheren Stufen der Meditationspraxis vor, so Vaitl. Meiner Meinung nach ist es für PädagogInnen bei institutionalisiertem Lernen im Alltag nachrangig, ob wirklich synchrone Gamma- oder Alphawellen erreicht werden könnten.

Zusammenfassung :
Die vier Schritte auf dem Weg hin zu mehr Achtsamkeit gehen nahtlos ineinander über: Wer achtsamer gegenüber äußeren Objekten und seinen Körperfunktionen ist (Schritt 1+2), entwickelt ein besseres Körpergefühl und kann sich damit auch besser in das Befinden anderer Personen hinein versetzen (Schritt 3), erarbeitet sich so eine selbst­be­wusste (als seiner selbst bewusste), authentische und altruistische (selbstlos-gütige), gelassene und positiv ausgerichtete Lebenseinstellung.
(Die Angaben zu hirnphysiologischen Abläufen sind entnommen u. a. Carter 2010, Ekman in Sentker & Wigger 2009, Ekman 2010, Frith, Chr. 2010, Gasser 2010, Gehlen & Delank 2010, Herschkowitz 2004, 2006, Hüther 2006, Kautzmann 2001, O´Shea 2008, Roth 1997, 2003, Schmidt & Thews 1997.
Die Angaben zu neuronalen Korrelaten der Achtsamkeitsmeditation sind entnommen u. a. Csikszentmihalyi 2006, Davidson & Kabat Zinn et al. 2003, Hilbrecht 2010, Hölzel et al. 2010, Ott 2000, 2010, Vaitl 2010, Walach & Schmidt 2011 in Druck, Zeidler 2007.)

3. Forschungsaktivitäten zum Thema “Meditation und Gehirn"

3.1 Zum Boom der letzten 10 Jahre

In den letzten 10 Jahren sind die Forschungsaktivitäten zum Thema “Meditation und Ge­hirn” sprunghaft angestiegen. 2010 wurden mehr wissenschaftliche Veröffent­li­chungen hierzu registriert als in den gesamten 40 Jahren zuvor. Drei Impulse erscheinen dafür verantwortlich :

Impuls 1 :
Dialoge des Dalai Lama resp. buddhistischer Mönche mit führenden westlichen Wissenschaftlern; z. B. organisiert vom “Mind & Life Institute” ab 1980; Kongresse in Dharamsala; “Summer Research Institute” ab 2004; Buch “Hirnforschung und Meditation”, 2008: Hirnforscher Wolf Singer im Dialog mit dem Molekularbiologen und buddhistischen Mönch Matthieu Ricard; “Dalai Lama Center for Peace and Education” mit Paul Ekman; er forscht zum Einfluss von Meditationstechniken auf das Gefühlsleben.
Impuls 2 :
geht aus von der Wirksamkeitsforschung so genannter “achtsamkeitsbasierter psychotherapeutischer Konzepte”, die auf verschiedene Krankheitsbilder abzielen: “Mindfulness based Therapies" (MBTs); 8-wöchige Achtsamkeits­übungen mit signi­fi­kanten Unterschieden im Vorher-Nachher-Vergleich. Hier wird das Konzept im klinischen Kontext entwickelt; bemüht um Effektivität und wissenschaftliche Evaluation; z. B. (1.) Britta Hölzel in Boston (2007, 2009); Hölzel et al. im BION (Bender Institute of Neuroimaging) der Uni Gießen; (2.) Jon Kabat-Zinn entwirft 2009 ein Meditationsprogramm zur Stressminderung auf der Basis von Achtsamkeitsmeditation (= “mindfulness based stress reduction”, MBSR; Bundesrepublik Deutschland: Linda Lehrhaupt, Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung in Bedburg). Bei dieser seminarartigen Vermittlung von Achtsamkeit werden nach Meinung des Psychotherapeuten Michael Huppertz (2009, 2011) die pathologischen Denk- und Verhaltensmuster der Patienten nicht angegangen und verändert, sondern nur bewusst wahrgenommen mit dem Ziel, dass sie sich über Achtsamkeit von selbst relativieren und ändern. Huppertz sieht es als Schwäche dieses Ansatzes, dass die Patienten Eigenverantwortung zeigen und sich aktiv beteiligen müssen (üben), womit sie überfordert sein können. Zudem sei die Evaluation dieser achtsamkeitsbasierten Therapieansätze noch nicht weit vorangekommen (Huppertz, 2011, S. 181).
Impuls 3 :
geht aus von den technischen Möglichkeiten, die durch bildgeben­de Verfahren der Hirnforschung gegeben sind (Neuroimaging): fMRT-Scans vi­sualisieren die Wirkungen von Meditationsübungen auf Aktivität und Struktur des Gehirns (hohe Gehirn-Plastizität ermöglicht neuronale Veränderungen durch eigenes Tun); z. B. im BION unter Dieter Vaitl, Ulrich Ott und deren Team oder an der University of Wisconsin in Madison unter der Leitung des Psychologen Richard J. Davidson.

3.2 Ergebnisse einer Literaturrecherche

Obgleich zum jetzigen Zeitpunkt die Effekte von Meditationstechniken noch nicht ausreichend wissenschaftlich belegt sind, werden sie heute bereits in der westlichen Welt eingesetzt in enormer Bandbreite: im Spitzensport (als Konzentrationsübungen), in Gefängnissen (bei gewaltbereiten Personen), in Schulen (als Empathie-Training, USA), in der klinischen Psychologie / Psychiatrie als Therapieverfahren zur Selbstregulation bei psychischen Störungen.

4. Zur Arbeit mit Kindern : in lebendigen Situationen hin zu den “4 As”

Fasst man Achtsamkeitsübungen als eine Technik (ein technisches Verfahren / eine Methode / ein Werkzeug zur Selbstregulierung), so der Psychologe Ulrich Ott, Uni Gießen (2010) und der Psychotherapeut Michael Huppertz (2009, 2011), dann ist sie ein für jedermann praktikables Verfahren; pädagogische Kräfte und die ihnen anvertrauten Kinder eingeschlossen. Zur Achtsamkeit der pädagogischen Kräfte gehören verinnerlichte Verhaltensweisen wie selbst Gelassenheit zu üben; Selbst-Stopp-Strategien zu trainieren, denn Stress schränkt Handlungsoptionen ein und führt zu alternativlosem Re-Agieren; sich Zeit zu nehmen, um die Kinder beobachtend wahrzunehmen ohne zu bewerten und dabei zu erkennen, was das einzelne Kind gerade braucht. Schließlich gilt es, die Kinder nicht rigiden Lernzielvorgaben zuzuführen, sondern sie so zu akzeptieren, wie sie sind und dort abzuholen, wo sie gerade stehen (auch Wochenplanarbeit kann Stress auslösen). Es stellt sich die Frage, inwieweit im institutionalisierten Lernen mit Kindern überhaupt Verhaltens-, Gefühls- und Denkveränderungen in Richtung Achtsamkeit angestrebt und (realistisch) herbeigeführt werden können. Dazu Matthieu Ricard: “Allmählich die Hass-Straße verengen und die Mitgefühl- Straße weiter öffnen, das ist der Weg.” (Singer & Ricard 2008). Wenn nun Achtsamkeit und Altruismus am Ende harten Bemühens und Ringens in diversen Alltagssituationen stehen, zeichnen sich für die pädagogische Arbeit mit Kindern zwei integrale Bestandteile des Weges zu den “4 As” ab :
1. “nicht zu sedieren”; denn es geht beim Achtsamkeitstraining keineswegs darum, Kinder dauerhaft ruhig zu stellen; sind doch ihre Neugierde, Lebendigkeit, Spontaneität und Bewegungsfreude wertvolle Items ihrer Persönlichkeitsentwicklung.
2.”längerfristig zu üben”. Ein Achtsamkeitstraining hat in jeder Lebens­spanne das Ziel, bewusster wahrzunehmen, umzudenken und sich neu auszurichten. Es bedarf immer wiederholter Übung, wenn neue Verhaltensweisen in Routinen übergehen und zu neuen Verhaltensgewohnheiten werden sollen (dank Neuroplastizität). Das Sprungbrett dazu bilden Übungen in äußerer, innerer und zwischenmenschlicher Achtsamkeit.

Abbildung 4

Ziel institutionalisierten Lernens ist es, ein wenig mehr fokussierende Achtsamkeit in den pädagogisch arrangierten Alltag zu überführen und (ansatzweise dauerhaft) zu verankern. Die drei in der Grafik angeführten Achtsamkeitsformen sind als aktive Übungsteile angelegt, weil Kinder entwicklungspsychologisch bedingt bes. gut auf Bewegung ansprechen und sich mit Stille und Sitzen schwer tun. Auch sind sie nur rein theoretisch voneinander trennbar, praktisch greifen sie ineinander über.

4.1 Zur “äußeren Achtsamkeit” :

Hier gilt es, die Mitwelt differenziert und bewusst wahrnehmen über Objektbetrachtungen und Alltagstätigkeiten.

Zu “Objektbetrachtungen” :
Ging es bei Sinnesspielen (KIKA und GS) um Zuordnen bestimmter sensorischer Erlebnisse (im Händeln von Objekten) und um das Benennen; geht es hier (Objekte fokussierend) um das Spür-Erlebnis:“Spürst du was?”. Objektzuordnung ist nachrangig. Der Impuls des Ratens, was man schmeckt, riecht, hört, fühlt (“Was ist das?”), der des Benennens und des spontanen Bewertens soll losgelassen werden. Aber: Der Impuls des Ratens und Einsortierens ist einfach vorhanden. Aus hirnphysiologischer Erkenntnislage weiß man, dass das menschliche Gehirn Ungewisses / Nicht-Verstandenes schlecht aushalten kann: Verständnislücken füllt es mit spontanen Erklärungen. M. E. ist es in der Arbeit mit Kindern realistisch, nach dem spontanen Benennen und Bewerten wiederholt aufzufordern, inne zu halten und mit “und” loszulassen und die Qualia unbewertet, dafür aber differenziert spürend wahrzunehmen durch betasten, beschauen, wiegen (d. h. auf unterschiedliche Weise sensorisch erfahren und einprägen). Im spielerischen Umgang mit unterschiedlichen Objekten werden Differenzen erkannt, Objekte in verschiedenen Raumlagen eingeprägt, veränderte Anordnungen als solche registriert (z. B. Spiele mit diversen Gegenständen, ev. Süßigkeiten, die nach dem “Finden” vernascht werden dürfen).

Zu “Alltagstätigkeiten” :
Fokussieren auf Alltagstätigkeiten bedeutet, gewohnten Tätigkeiten mehr Aufmerksamkeit und Zeit zu geben; z. B. dem Atmen oder dem Essen: “Aus einem flachen wird ein tiefer Atem, aus Essen [wird] Genuss” (Huppertz 2011, S. 174). Das bedeutet, Routinen ins Bewusstsein zu heben, sie neu zu erleben und andere Aspekte daran wahrzunehmen: [Sprechen:] “Ich schäle, schäle” (eine Apfelsine). “Ich teile, teile” (in Schnitze). Dabei wird nicht mehr an etwas anderes gedacht, sondern Präsenz ist erforderlich. Der Fokus kann auch auf Bewegungsfolgen liegen, wenn eine nicht-routinierte Bewegungsfolge auszuführen ist. Hier ist ebenfalls Präsenz erforderlich, weil man sich auf die korrekte Ausführung konzentrieren muss; seien es Körperhaltung oder Fingergeschick, Schrittfolge, Bewegung im Raum, in der Gruppe (z. B. Fingerspiele oder Rhythmiklieder mit Sprache oder Singen in der Bewegung (bes. Drehungen) samt Melodie; all das läuft der beim Denken erforderlichen Geradlinigkeit entgegen: Drehen kontra lineares Denken (vgl. Sufi-Drehen).

4.2 Zur “inneren Achtsamkeit” :

Hier geht es darum, den Leiberfahrungen sensibel nachspüren: “Was fühlt sich wie an?” Kleinste Differenzen sollen wahrgenommen werden; Spürerfahrungen im eigenen Körper; denn Wahrnehmungen beruhen auf Bewegungen und über diese Bewegungen werden Differenzen erfassbar. In solchen Übungen werden Körperhaltungen nur minimal variiert / damit “experimentiert” (in Übungen zum Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen; vgl. Feldenkrais); d. h. über die Bewegungen werden Differenzen bewusster und besser erfahrbar. In anschließenden Sharpings spricht die Gruppe darüber. Beispiele: (1) Atmen mit Einweisung [Erfahrungstatsache: Bei Kindern wie bei Erwachsenen ist eine Einweisung wirkl. erforderlich]; Bauchatemtechnik im Liegen, Stehen, Sitzen; vgl. Entspannungstechnik; (2) Gehen in der Gruppe / Hand berühren / begrüßen / Blickkontakt / verabschieden; (3) im Liegen die Augen rollen im Uhrzeigersinn, flott kreisend ohne Kopfbewegung zum Loslassen und Präsenz erlangen; (4) “Tönen” im Sinne von Vokale zum Klingen bringen; macht den Körper als Resonanzraum spürbar; erzeugt ein Bewusstsein für die eigene Stimme.

4.3 Zur “zwischenmenschlichen Achtsamkeit” :

Hier geht es darum, Soziabilität zu schärfen (“Verbundenheitsübungen”; Huppertz 2011, S. 167). Damit werden Empathie und letztlich Authentizität weiter entwickelt.

Der Weg hin zu mehr Empathie führt über Perspektivenwechsel in lebendigen, spielerischen Situationen, um vom sofortigen Bewerten und Sich-in eine Richtung-Festlegen loszulassen mit achtsamem Beobachten und Zuhören und präzisem Verbalisieren. (Lebendige Spielszenen: Sketche; Witze). Beim Perspektivenwechsel geht es auch um Skepsis gegenüber Geschichten aus dem eigenen Leben (= Wahrnehmen als etwas Subjektives bewusst machen); weg von “Storylines” (in der sozialpädagogischen Arbeit).

Der Weg hin zur mehr Authentizität beginnt damit, gewahr zu werden, wie man selbst an einer Situation und ihrem Fortgang beteiligt ist. Solches ermöglicht wiederum, das eigene Handeln besser zu steuern und letztlich unabhängiger zu werden von den Reaktionen anderer Menschen (authentischer). Beispiel: Anlässe aus KIKA und Schulalltag in Achtsamkeits-Gesprächen aufarbeiten; Frage: “Und was war vorher? Was hast du davor getan – was hat er davor ...?”

Empathiefähigkeit und Authentizität sind integrale Teile einer “Theory of Mind” und gelungener Sozialbilität mit der Option, anders wahrzunehmen, umzudenken und anderes zu handeln.

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Weitere Literatur: siehe “Themenspezifische Literaturverzeichnisse”

Adressen im Internet :

(Da Internetadressen sich oft ändern, erfolgen diese Angaben ohne Gewähr.)

http://www.spiritualemergence.info
(Netzwerk von Therapeuten für spirituelle Krisen und Opfer von Esoterik)

http://www.institut-fuer-achtsamkeit.de
(Pädagogin Dr. Linda Lehrhaupt; Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung)

http://www.smmr.de
(Society of Meditation and Meditation Research)

http://www.uni-giessen.de/fbz/fb06/psychologie/weitere-inst/bion
(Bender Institute of Neuroimaging, Universität Gießen)

http://www.buddhistische-akademie-bb.de
(Buddhistische Akademie Berlin)

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