„Klein-Felix erklärt (sich) die Welt“ oder wie Erwachsenensprache versteckte Botschaften an den Nachwuchs transportiert

Dieser Fachartikel wurde in "sprechen", Zeitschrift für Sprechwissenschaft-Sprechpädagogik-Sprechtherapie-Sprechkunst
2013, (38) 56, S. 21-31 veröffentlicht.

1. Einleitung:

Oma beugt sich über ihr achtwöchiges Enkelkind und beginnt in vortrefflicher Ammensprache/ Motherese, einem Schwall an Lautmalereien mit vokalischem Hoch-Tief-Unterschied und entsprechender Gestik und Mimik auf das Kleine „einzusingen“: Bim – bam, die Katz` ist krank, liegt im Bett, isst Butterweck ... . Dabei wiegt sie ihren Oberkörper wiederholt von rechts nach links und von links nach rechts, wobei der Anhänger an ihrer Kette kräftig mitschwingt. Ihr Enkelkind ist aufmerksam. Seine freudige Erregung macht sich über ganzkörperliche Bewegungen bemerkbar.

Aber es sind nicht in erster Linie die Onomatopöien und der wohlklingende Sing-Sang, welche die kindliche Aufmerksamkeit erwecken; es ist vorrangig die Pendelbewegung des Anhängers an Omas Kette! „Das Kind sei an unseren Worten interessiert .. . ist ... ein ziemlich festgefahrenes Aufmerksamkeitsklischee ..., weil der Faktor Bewegung nicht genügend berücksichtigt wird“, so der Linguist und Kinderliedermacher Frederik Vahle (2010).

Wie das Eingangsbeispiel zeigt, wird das Wirkpotential reiner Worte (ob gesungen oder gesprochen) in Bezug auf Kinder häufig weit überschätzt; und das nicht nur bei ganz Kleinen. Deshalb sollen im Folgenden dialogische Prozesse beleuchtet werden im Sinne eines Gesamtscore aus muskulären, affektiven, kognitiven und sozial-kommunikativen Dimensionen seitens der sprechenden Erwachsenen wie des rezipierenden Nachwuchses – zusammen mit dem, was für die Sprachwissenschaft „Sprache pur“ ausmacht wie Grammatik, Lexik, Phonetik, Prosodik und Pragmatik.

Ganz wesentlich für gelingendes Kommunizieren Erwachsener mit Kindern ist dabei, wie die Botschaften der Großen bei den Kleinen „ankommen“; als verbale Waffen oder als Bonding-Instumente. Diverse kommunikative Aktions- und Reaktionsmuster werden anhand von Beispielen dargestellt und diskutiert, um daraus ableitend kind-angepasste Sprechweisen für Erwachsene aufzeigen zu können, die für Familien und pädagogische Institutionen bei ihrer Beziehungsgestaltung hilfreich sind.

2. Von alltäglichen „Stolpersteinen“ in der Erwachsenensprache ...

und wie sie Kommunikation und kindliche Sprachentwicklung ungünstig beeinflussen können:

Beim Spracherwerb in den ersten Lebensjahren spielen physiologische Prozesse hinein, wie muskuläre, sensomotorische, affektive u. a. – eng verbunden mit der Leiblichkeit und Psyche des Kindes. „Interiorisation äußerer Bewegungsvorgänge“ meint in diesem Zusammenhang, dass der körperliche Ursprung des Denkens in der Verinnerlichung realer Handlungsmuster liege (siehe J. Piaget, B. Whorf, L. Wygotski). Dass es teils auch andere Wege zum Spracherwerb gibt, zeigen beeinträchtigte und behinderte Kinder, wenn sie die Plastizität ihres Gehirns und die Verknüpfungsvielfalt der neuronalen Bahnungen nutzen für ihren speziellen ganzheitlichen Spracherwerb.

Erwachsene hingegen haben meist die sehr physische Verkörperung von Sprache verloren. Für sie ist diese vorragig ein Mittel zum Informieren, Verständigen und Denken. Sind also Missverständnisse aufgrund des unterschiedlichen Bedeutungsgehaltes von Sprache im alltäglichen Kommunizieren Erwachsener mit Kindern vorprogrammiert? Das scheinen die Verbalisierungen der Großen in den folgenden drei Fallsituationen nahezulegen. Und wie kommen die sprachlich verpackten Botschaften beim Nachwuchs wirklich an?

Fallsituation 1: „Mit dir kann man nicht einkaufen“... „Du bist so unordentlich“...

Bei solchen Äußerungen einer Bezugsperson sieht sich das angeschuldigte Kind in seiner ganzen Person herabgewürdigt; in seinem Selbstwertgefühl verletzt; ungerecht behandelt, da es sein Verhalten aus diversen anderen Situationen heraus als durchaus konstruktiv erinnert. So werden „Worte zu Wurfgeschossen mit Ventilfunktion“ (Vahle 2010, 87), die das Bindungsverhältnis des Kindes zur Bezugsperson verunsichern (Buchheim & Gaschler 2012). Gerade hier müssten Erwachsene bewusst und sehr bedacht agieren, indem sie reine Beobachtung und subjektive Bewertung klar unterscheiden und dies auch verbal zum Ausdruck bringen (siehe: Gewaltfreie Kommunikation (GFK), Rosenberg 2012). Anstatt generalisierend „du bist ...“ sollte auf die spezielle Situation bezogen „du verhältst dich aus meiner Sicht gerade ..., das macht mich traurig“ formuliert werden. Kindern muss der große Unterschied in der Bedeutung dieser beiden Aussagen klar vor Augen geführt werden; denn auch sie neigen zum Generalisieren („Ja, ja, ich bin immer unordentlich, das weiß ich schon“, kann die ausgesprochene oder gedachte Reaktion sein.). Trotz verbal korrekt formuliertem Bedeutungsgehalt wird dennoch auf non-verbaler Ebene über Mimik, Gestik und Körperhaltung seitens des Erwachsenen dem Kind Kritik übermittelt, auf die es in dieser angespannten Situation abwehrend-destruktiv reagiert. Damit das kindliche Selbstwertgefühl nicht Schaden nimmt, muss in jedem Dialog dieser Art wieder und wieder auf den besonderen Bedeutungsgehalt des Satzes „Du verhältst dich gerade eben nicht ordentlich (z. B. wenn du die Socken auf dem Schreibtisch ablegst); was mir zu schaffen macht“ ausdrücklich eingegangen werden.

Fallsituation 2: „Mädchen haben lange Haare“ ...

Gibt die Bezugsperson bspw. beim Bilderbuch-Kommentieren generische oder verallgemeinernde Erklärungen, formulieren die Vorschulkinder ihrerseits dann auch häufiger in stereotypen Beschreibungen, so die Erkenntnis aus einer entsprechenden Studie der Psychologen um Majorie Rhodes von der New York University (zit. n. Gehirn & Geist 2012).

Da junge Kinder bis ungefähr zum 9. Lebensjahr noch kein eigenes Wertesystem entwickelt haben und in ihren ersten Jahren vorwiegend am Modell lernen (= Imitationslernen und -verhalten), geben die Nah-Menschen ihnen die Interpretation der Mitwelt vor (Jackel 2011, 16-22). So reproduzieren sie auch wenig reflektierend die Formulierungen ihrer Bezugspersonen und übernehmen damit zunächst kritiklos deren subjektive Bewertungen; z. B. Elternaussagen wie „Als Junge trägt man keine Haarspange“ oder „Das Rosa-Getue ist albern“. In beiden Fällen wollen Eltern aus ihrer Sicht für ihren Sprössling nur das Beste; resp. ihren Sprössling schützen: Im Fall der Haarspange wollen sie schützen vor dem unausweichlichen Schmunzeln der Mitmenschen, wenn ein Junge nicht der allgegenwärtigen Klischeevorstellung entspricht, wie ein männliches Wesen sich zu kleiden habe – im Fall der Vorliebe für Rosa wollen sie zu mehr Individualität hinlenken und dem Mainstream „erst Rosa – dann Lila“ in Kindergarten und Eingangsstufe der Grundschule samt entsprechender Kommerzialisierung entgegenwirken.

Beide Male findet eine Bevormundung des noch jungen Nachwuchses statt, wenn die erkenntnisförderlichen Hintergrundinformationen nicht mitgeliefert werden. In ihrer Abhängigkeit von den Eltern, denen die Kleinen in diesem Alter noch gefallen wollen (um möglichst wenig Konfliktpotential zu liefern und folglich mehr geliebt zu werden; so Gerald Hüther, 2012), gehorchen sie ohne Einsicht und nehmen die Haarspange ab oder reden ihnen Eltern nach dem Mund: „Rosa ist doof“.

Lassen nahestehende Erwachsene häufig generische Ausdrücke und verallgemeinernde wie auch abschätzige Bemerkungen fallen, können sich nach Ansicht der Forscher um Majorie Rhodes im Denken der Vorschulkinder leichter Stereotype und Vorurteile manifestieren. Bereits in diesem Alter beginnt auch die Sprach-“Macht der Gleichaltrigen“, die als „heimliche Erzieher“ den Einfluss der Eltern schmälern (Wißkirchen 2002).

Gleichwohl sollten Erwachsene ihren Kindern mehr Freiraum geben zu eigenen Beobachtungen sowie eigenständigen Handlungs- und Verhaltenserfahungen und so Offenheit fördern. Dabei können die Großen etwas von der unvoreingenommenen Flexibilität und Vielfalt, welche die Kleinen dem Leben entgegenbringen, selbst auch wieder zurückgewinnen (Altner 2012). Das entbindet in anderen Situationen nicht von klaren Ansagen, die als Strukturierungshilfen notwendig sind.

Fallsituation 3: “Hinsetzen!“ ... „Weg damit!“ ... „Dalli, dalli!“

Ständiger Kommandostil vermittelt dem Kind den Eindruck, es sei reiner Befehlsempfänger und die Erwachsenen seien die alleinigen „Bestimmer“. Im Umgang der Kinder untereinander herrschen dann entsprechende Umgangsformen: Dort wird auch nicht ausgehandelt, sondern vornehmlich vom Stärkeren bestimmt und vom Schwächeren gehorcht. Beim Erklären und Aushandeln von anstehenden Vorgehensweisen hingegen ist dem Verstehen in der Sache und dem Anhören und Nachvollziehen der Interessen sowie Intentionen aller Beteiligten Raum gegeben: ein Empathie fördernder Prozess auf dem Weg zum Demokratieverständnis. Haben überforderte Erwachsene hierfür wiederholt weder Zeit, Geduld noch Sensibilität, können ihre herumkommandierten Kinder Prozesse demokratischer Entscheidungsfindung nicht ausreichend trainieren und sich in unserer Gesellschaft nur schwer zurechtfinden.

Im gesellschaftlichen Zusammenleben gibt es aber zweifelsohne Situationen, die das Aktions- und Reaktionsmuster des asymmetrischen Befehlens und Gehorchens erfordern. Sie finden sich überall dort, wo extrem zeitnah allgemein gültige Handlungsanweisungen zu befolgen sind, um zu einem situationsangemessenen Ergebnis zu gelangen; z. B. beim Militär, im Mannschaftssport oder in der Straßenverkehrsregelung. Trotz der Vielfalt an Anwendungsfeldern des Begriffs- und Aktionspaares „Befehlen – Gehorchen“ stellt es nicht eine dialogkonstruierende Kommunikationsform dar, so der Sprechwissenschaftler Hellmut Geißner, sondern eine „Randkommunikation“ (in: “sprechen“ 2012, 53, 19-32), weil sie nicht im Sinne wechselseitigen Überzeugens fungiert.

Für den Umgang im familiären Bereich erscheint die formelhafte Kürze des Kommandostils nur in Notfallsituationen angemessen, wenn es gilt, physischen Schaden abzuwenden, im Falle dass sich der Nachwuchs in unmittelbarer Gefahr befindet. Bleibt der Befehl „Hände weg!“ zusammen mit entsprechender Gestik und Intonation die Ausnahme – wie in einer Gefahrenlage –, ist sichergestellt, dass die Kinder auch wirklich aufmerken und sofort innehalten.

Übliche Formen der Befehls-Abschwächung sind Bitten und bittende Fragen wie “Würdest du bitte deine Schuhe anziehen?“ Aber: Durch Anfügen eines imperativisch gesetzten „ ... Jetzt!“ nach mehrfacher Nichtbefolgung mutiert die Verbalisierung abrupt wieder zum kruden Befehl. Zuweilen – bitte nur in Ausnahmefällen – scheint es in der Praxis des Familien-, Kindergarten- und Schulalltages nicht ohne Folgsamkeitserziehung inklusive Befehls-Gehorsams-System zu gehen; so die Ansicht der Autorin als langjährige Lehrkraft und mehrfach mit-erziehende Großmutter.

3. Vom spiegelnden Reagieren:

Erwachsene wie Kinder können destruktiv handeln und sprechen, bspw. indem der eine „laut“ wird und der andere dies seinerseits wiederum durch eigene Destruktivität, wie Zurückbrüllen, ahndet. In emotional aufgeladenen Situationen reagieren nicht nur Kinder, sondern auch die Großen spontan mit Automatismen aus dem vegetativen Nervensystem aufgrund der biologischen Stressachse (mit Schaltstationen wie Amygdala, Hypothalamus, Hypophyse, Nebennierenrinde; Carter 2010, Schünke et al. 2009). Dabei sind in der Erstreaktion die frontalen Cortexareale abgeschaltet, welche für Handlungsplanung, Umdenken und Empathie kodieren. Der Perspektivenwechsel hin zum Kind gelingt nicht aus der Stressreaktion heraus. Freilich, Erwachsene können durch bewusste, beruhigende Verhaltensstrategien (Selbst-Stop-Strategien) diese fatale Sofortreaktion stoppen und über Innehalten – Reflektieren – gedankliches Umorientieren im Fortgang des Dialogs de-eskalierend wirken. Kindern im Elementar- und frühen Primaralter fehlt es aufgrund ihres noch wenig ausdifferenzierten Frontalcortex an der notwendigen emotionalen und kognitiven Flexibilität und meist auch an geeigneten Achtsamkeits-Strategien. Denn dazu müssen sie erst angeleitet werden und diese verinnerlicht haben.

Beim gegenseitigen Sich-Anbrüllen handelt es sich um ein Negativbeispiel für „spiegelndes Reagieren“ (Altner 2012, 93); denn dabei wird das Gegenteil vom eigentlich Intendierten gelernt: Wer lauter brüllt, der siegt. Hinzu kommt, dass Negatives in vielfacher Weise Positives aussticht und später besser erinnert wird (Kahneman 2012, 371). Durch Wiederholungen verfestigt sich die so geprägte mentale Negativ-Repräsentation, nistet sich relativ änderungsresistent in der kindlichen Vorstellung ein und nimmt einen ungünstigen Einfluss auf die Orientierung des Heranwachsenden in seinem späteren Leben. Positivbeispiele für spiegelndes Reagieren sind Lachen und Gelassenheit; auch sie stecken an. Gehen Erwachsene ruhig mit einer Situation um, spiegelt sich diese Ruhe bald auch beim Kind und die Situation de-eskaliert („Runter von der Palme-Effekt“; Jackel 2004, 2012a, c)

Spiegelndes Reagieren ist erklärbar mit dem Wirken von Mirror Neurons/Spiegelneuronen. Im Gehirn gibt es ein Netzwerk aus Handlungs-, Empfindungs- und Gefühlsneuronen zum Wahrnehmen seiner selbst und zugleich der Absichten, Handlungen, Empfindungen und Gefühlslagen anderer; alles im eigenen Wahrnehmungssystem „spiegelnd“; deshalb Spiegelneuronensystem genannt (Jackel 2012, 30). Im prämotorischen Cortex/ PMC werden Bewegungen geplant und vorbereitet; von hier kommt der Steuerungsimpuls mit Gebrauchsvorgabe. Beim spiegelnden Reagieren sind die spiegelnden Handlungsneuronen im supplementär-motorischen Areal/ SMA aktiv (Bauer 2006, Ramachandran & Oberman 2007, Rizzolatti & Sinigaglia 2008). Hier entsteht ein Handlungsvorschlag zur Wiederholung der wahrgenommenen Aktion. Die Handlungsneuronen in PMC und SMA innervieren die rein motorischen Neuronen im angrenzenden primären motorischen Cortex/ MC, von denen dann der Output ausgelöst wird, indem sie die neuronalen Programme für die konkret benötigten Muskeln in Gang setzen. Unter Rückgriff auf die ihnen zuarbeitenden Basalganglien generieren sie den passenden Muskeltonus – auch für die Artikulationsmuskeln (Jackel 2008b, 160): ... und die beobachtete Gelassenheit erzeugt ihrerseits eine gelassene Reaktion.

Abbildung 1
Cortexareale für spiegelndes Reagieren

4. Von kindlicher Hirnreifung und entsprechendem Sprachverständnis:

Kindgerechtes und förderliches Sprechen von Eltern, anderen Bezugspersonen sowie pädagogischen Fachkräften in Institutionen wie Kindertagesstätten und Schulen sollte stets bedacht abgestimmt sein auf die kognitiven, emotionalen und sozial-kommunikativen Bedürfnisse der Kinder und zudem ausgerichtet auf deren Gesamt-Entwicklungsstand.

Denn das Heranreifen der Gehirne und die sprachliche Fortentwicklung bedingen einander. Dies verdeutlichen die beiden folgenden Beispiele

Kapazität des kindlichen Arbeitsgedächtnisses:

Bei der Texterfassung spielt die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses eine wesentliche Rolle; denn es speichert beim Zuhören vorübergehend die sprachlichen Informationen, um den Satz inhaltlich zu verstehen. Da diese Leistungskapazität aber noch nicht voll ausgebildet ist, können lange und/ oder komplexe Satzkonstruktionen erst ab dem Primaralter zunehmend besser erfasst werden: Bis zum Satzende passiert es bei langen phonologischen Schleifen, dass die Kleinen den Satzanfang bereits wieder vergessen haben (Korte 2009, 2012). Die Leistung des Arbeitsgedächtnisses in Bezug auf phonologische Schleifen in langen Satzkonstruktionen hängt auch davon ab, wie vertraut Kinder mit solchen Texten sind. Denn es spielt keine unerhebliche Rolle, wie oft zur Literacy hinführende Texte in Form von Bilderbüchern und Kinderliteratur vorgelesen und im Grundschulalter selbst gelesen werden (Wolf 2010).

Neuronale Zweiwegeverbindung zwischen Broca- und Wernicke-Areal im Aufbau:

Eine Syntaxverarbeitung nach dem Objekt-Prädikat-Subjekt-Satzmuster, wie „Den Hasen fängt der Fuchs“, gelingt im Elementaralter deshalb nicht, weil das ventral zwischen Broca- und Wernicke-Areal verlaufende Faserbündel in der Vorschulzeit noch nicht voll ausgebildet ist, wie über Neuroimaging visualisierbar. Denn die ventral verlaufende neuronale Verbindung zwischen den beiden Sprachzentren kodiert für syntaktisch komplexe Sätze und damit für schwerer erfassbare Satzbedeutungen (Friederici 2011; Weiller 2011; siehe auch Jackel 2012b in „sprechen“, 53, 47-54). Im Elementaralter sind kurze Subjekt-Prädikat-Objekt-Sätze angebracht mit einfacher Wortwahl und inhaltlicher Anschaulichkeit.

5. Sprache – von der Bewegung aus betrachtet:

Sprache ist Bewegung und sprachliches Handeln eine spezielle Form des menschlichen Handelns (Welling 1990). Das belegt der in großen Teilen gemeinsam verlaufende neurophysiologische Weg, den sprechen – musizieren – sich bewegen im menschlichen Gehirn nehmen (Neuweiler 2005, Jackel 2008b; Jäncke 2010, Vahle 2010 u. a.). Eine bewegungsorientierte Zugangsweise zur Sprache, wie es die Psychomotorik seit der Meisterlehre Jonny Kiphards aus den 1960er Jahren tut, geht vom Atem, vom Summen und Tönen aus und erlebt den eigenen Körper nicht nur als Resonanzraum („Atemhaus“; Vahle 2012), sondern auch als Instrument in dialogischen Prozessen mit Elementen wie sprechbegleitenden Mikrobewegungen im gesamten Körper bei sich selbst wie auch beim Gesprächspartner („muskular bonding“), bedeutungsuntermauernder Gestik und zugewandter Mimik samt Mimikry.

Auch die lautsprachunterstützte Kommunikation (UK) benutzt Gebärden, wobei nur die bedeutungstragenden Wörter gebärdet werden. Die UK hilft beispielsweise Kindern mit Trisomie 21 zur Lautsprache zu kommen (Nonn 2001).

Abbildung 2
10-jährige Kinder spielen einen Sketch mit ausdrucksstarker Mimik des Entsetzens bei gehörter Schreckensbotschaft

Denn mit einer impliziten Körper- und Sprechhaltung können wir Kommunikation gestalten, sie verändern (siehe Kapitel 3: spiegelndes Reagieren). So betrachtet findet Sprache nicht im Kopf, sondern im ganzen Körper statt, und die dualistische Vorstellung vom Geiste einerseits und dem Körper andererseits erscheint obsolet.

In den letzten zehn Jahren ist festzustellen, dass alle Therapieschulen das Körperliche mit dem Psychischen vernetzen, um Entwicklungsförderung zu meistern. In der Psychomotorik wird von der „Intelligenz des Körpers im Gehirn“ gesprochen, so der Motopäde Christian Uebele (2006). Und im Regelschulbereich der Grundschulen wird ohnehin effektives Lernen mit Bewegung verbunden („Lernen, wie das Gehirn es mag“, Jackel 2008a): Gehen im eigenen Rhythmus beim Auswendiglernen; Laufdiktate zum Behalten von Wörtern und Sätzen; Treppensteigen zur Addition, das Rückwärtsgehen zur Subtraktion; gemeinsames rhythmisches Bewegen für emotionale Synchronisation (als Beruhigungs- oder Aktivierungseffekt); auf dem Boden groß ausgelegte Buchstaben schwungvoll ablaufen beim Schrifterwerb, Handzeichen als visuelle Gliederungshilfe für Wörter/ den alphabetischen Charakter der Schrift verdeutlichend etc.

Gegenwärtig zeigen Labortests in den Bezugswissenschaften Psychologie und Hirnforschung, dass unser Körper die geistigen Fähigkeiten viel stärker beeinflusst als bisher angenommen (Weigmann 2013). „Embodied Cognition/ Embodiment-Forschung“ wird das Forschungsgebiet der Kognitionspsychologie genannt, welches die Beeinflussung kognitiver Leistungen durch den Körper und seine Interaktion mit der Umwelt untersucht. Es ist als Bestätigung für die bewegungsorientierte pädagogische Arbeit anzusehen, wenn ihre bewährten pädagogischen Settings einem neuro- und kognitionswissenschaftlichen Abgleich standhalten.

„Denn im Elementar- und Primarbereich ... sehen wir [Pädagogen in der Prävention wie Rehabilitation] das Kind vornehmlich als holistisches Wesen – fordern und fördern ganzheitlich – d. h. senso-motorisch + kognitiv + emotional + sozial- kommunikativ und nutzen den positiven Overflow, der von freudvoller Bewegung ... auf alle anderen Persönlichkeitsbereiche übergeht. Viel von dem, was wir auf diese Weise pädagogisch tun, wird als Neuropädagogik/ -didaktik verstanden“ (Jackel 2006).

Die Psychomotorik spricht vom sprachlichen Dialog als einem zwischenleiblichen Prozess, bei dem das gegenseitige Verstehen durch Mitbewegen und Mitschwingen entsteht. Non-verbale, para-verbale und verbale Elemente im Sprachfluss gehen somit ineinander über und bilden die Grundlage für eine Resonanz-Brücke – bestehend aus zugewandten Bewegungen, die vom einen Dialogpartner im Körper des anderen „gelesen“ und dann mit den Ausdrucksmitteln des eigenen Körpers erwidert werden. So gesehen implantiert gelingende Kommunikation stets auch Perspektivenwechsel und empathisches Verhalten.

6. Von alltäglichen „Cookies“ in der Erwachsenensprache ...

und wie sie die Verbundenheit mit Kindern förderlich gestalten können:

Die im Folgenden angeführten Merkmale einer gelingenden Kommunikation Erwachsener mit Kindern umfassen sowohl allgemein lernförderliche Verhaltensweisen des sozialen Miteinanders im Sinne propädeutischer Strukturen (6.1 und 6.2) als auch direkt sprechbezogene Items (6.3). Auf diesem Wege werden die dergestalt angesprochenen Kinder ihrerseits lernen, Sprache angemessen zu benutzen.

Es stehen hier vornehmlich solche Marker für Elternsprache im Fokus, die allen Kindern – mit und ohne Förderbedarf – guttun. In Zeiten von Inklusion als Rechtsanspruch für alle Menschen (laut UN-Konvention 2009), in denen die Ausgrenzungsbarrieren für Fehlentwicklungen von der Kindergartenzeit aufwärts für alle Kinder entfernt sind, ist ohnehin ein Perspektivenwechsel angesagt hin zu den Stärken des Einzelnen mit Blick auf Vielfalt: Profizit-Sichtweise statt primäre Defizitorientierung; über die ursprünglichen Ressourcen jedes einzelnen Kindes zu dessen nachhaltigem Lernerfolg gelangen. Ansatzpunkte sind somit Begeisterungsfähigkeit und Bewegungsfreude, die alle Kinder auszeichnen.

6.1 Wertschätzung zeigen durch Hinsehen und Hinhören beim Dialog:

  • Über Blickkontakt und unterbrechungsfreies Anhören den Kindesaussagen ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, so dass die Kleinen sich selbst als des Zuhörens wert erfahren und daraus Selbstfürsorge entwickeln können (aus Selbstwertgefühl erwächst Selbstfürsorge);
  • Zeiten für ungeteilte Aufmerksamkeit im Gespräch miteinander einplanen und damit Kommunikation als Baustein einer emotionalen Wiege aufwerten (z. B. Großeltern als Bezugspersonen mit Muße für wertschätzende Gespräche);
  • die von Kindern formulierten Aussagen wohlwollend hinterfragen, um die kommunikative Resonanz-Brücke sicherzustellen;
  • achtsam kommunizieren (siehe: Gewaltfreie Kommunikation GfK/ Nonviolent Communication).

6.2 Singen und Bewegen für Sprache nutzen:

  • Für Musik wie für Sprache gleichsam wichtige prosodische Marker nutzen, die Sprachrhythmus vermitteln sowie Sprachverständnis fördern und die integralen Zusammenhänge von Bewegen, Singen und Sprechen auf neurophysiologischer Ebene anregen über Melodie, Rhythmus, Dynamik, Betonung;
  • die Overflow-Effekte von Hand- und Mundmotorik sowie die zugehörigen koordinativen Leistungen stärken über Bewegungs- und Fingerspiele, Reime und andere Sprachspiele sowie Kreistänze mit begleitendem Singen.

6.3 Orientierungshilfen geben durch non-verbale, para-verbale und verbale Elemente:

  • Kurze Sätze, einfache Syntax, klare Artikulation;
  • das Wesentliche betonungsintensiv hervorheben durch Akzentuieren und Intonieren;
  • verlangsamtes Sprechtempo mit Sprechpausen, um dem Auffassungsvermögen bezüglich gehörter Sprache im jeweiligen Kindesalter gerecht zu werden;
  • verbales Erklären von Situationen und Zusammenhängen; aber auch Zeige-Gesten und Deute-Bewegungen, um die kindlich-sprunghafte Aufmerksamkeit zu lenken und zu fokussieren;
  • die rein verbale Aussage mit authentischer Gestik, Mimik und Gesamtkörpersprache untermauern als zusätzliche Verstehenshilfen;
  • klare Ansagen zum gewünschten Verhalten mit nachfolgender Bestätigung im Sinne einer positiven Rückversicherung für die Kinder;
  • bedacht und achtsam verbalisieren und unangemessene Formulierungen jeglicher Art vermeiden, was ein ständiges Erwachsenen-Training in zwischenmenschlicher Achtsamkeit erfordert.

(6.1 bis 6.3: Kommunikationsoptimierung mit Elementen aus Altner 2012, Dannenbauer 1999, Friederici 2011, Gaschler 2012, Jackel 2011, 2012a, c, Motsch 2004, Rosenberg 2012, Sallat 2008a, b, Vahle 2010, 2012, Westdörp 2010).

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