1. Hirnforschung, eine etwas andere Sichtweise dieser faszinierenden Disziplin
Neben namenlosen Versuchspersonen gab es schon immer namentlich bekannte Individuen, die zu bestimmten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen verhalfen; auch ohne spezielles Untersuchungsarrangement, weil ihr Leben selbst sie zu Erkenntnisobjekten machte (bspw. Phineas Gage; Kim Peek): "very important persons" durch ihre besonderen Lebenskrisen oder Begabungen wurden sie zu sog. "Zufalls-V.I.P.s".
Derzeit werden in Fachjournalen "very-important"-Laboruntersuchungen mit zuweilen erstaunlichen Untersuchungsitems präsentiert: "V.I.P.-Items und -Designs". Die verblüffende Bandbreite reicht von Eric Kandels "Gedächtnisschnecke" (2000, 2006) über Gisa Ascherslebens und Sabina Pauens "Probanden in Windeln" (beide 2005) bis zu Richard Davidsons meditierenden buddhistischen Mönchen im fMRT (Kraft, 2005).
1990 rief George Bush sen. die "Dekade des Gehirns" aus als Initiative zur Intensivierung der Hirnforschung. In Deutschland wurde im April 2000 für die Zeit bis 2010 ein vergleichbarer Forschungsverbund gestartet unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Arbeit. Denn die neue Disziplin der empirischen Neurowissenschaften kann mit bildgebenden Messmethoden bislang nicht zugängliches Wissen und Funktionszusammenhänge im Gehirn visualisieren: Funktionelles Neuroimaging als "V.I.-Messmethoden". Damit wird dem Gehirn bei seiner Arbeit zugeschaut (Jackel, 2006b). Ist man auch noch sehr weit davon entfernt menschliche Gehirne in Gänze zu begreifen, konnte man doch in den letzten hundert Jahren zumindest auf biochemischer Ebene unter maßgeblicher Beteiligung bildgebender Verfahren ein großes Stück weiter kommen.
2. Neuroimaging mit Möglichkeiten und Grenzen bei Kindern
PET (Positronenemissionstomografie) und fMRT (funktionelle Magnetfeldresonanztomografie als spezielle Kernspintomografie) messen indirekt die Aktivität der Neuronen über den Sauerstoffverbrauch im Blutstrom, der mit der Aktivität der Hirnnervenzellen ansteigt. Die Scans beider Verfahren gleichen einander; doch PET und fMRT arbeiten auf verschiedene Weise, was für den Einsatz bei Kindern nicht unerheblich ist. Beim PET muss vorab eine schwach radioaktive Substanz ins Blut injiziert werden. Folglich stammen PET-Daten vornehmlich von Kindergehirnen, die aus diagnostischen Gründen ohnehin gescannt werden mussten. Bei der fMRT kann nur alle 2 bis 3 Sekunden ein Scan erfolgen, was für das Erfassen neuronaler Prozesse (Millisekundenbereich) zu langsam ist. Zudem erlauben Lautstärke des Gerätes und absolutes Stillhalten in der Enge der Röhre einen Einsatz erst ab dem 6. Lebensjahr. Das EEG, als elektrophysiologische, periphere Technik, zeichnet die elektrischen Potentiale im Gehirn auf durch problemloses Auflegen von Elektroden auf der Kopfhaut, was selbst Säuglingen nicht unangenehm ist. Vorteilhaft ist die Zeitnähe der Aufzeichnung zum neuronalen Geschehen (= ereigniskorreliert). Jedoch führt nur die Aktivität großer Neuronenverbände zu einem Messergebnis. Als probates Messarrangement bei Säuglingen und Kindern wird häufig eine Kombination aus EEG und fMRT gewählt.
Ein neues Verfahren stellt die NIRS (Transcraniale Nahe Infrarot-Spektronskopie) dar mit Infrarotlicht. Muskelbewegungen wirken nicht störend; sogar Messungen im Laufen sind möglich. Damit könnte sie zur probaten Messmethode für die neurophysiologische Diagnostik bei Kindern werden; besonders für den wissenschaftlichen Abgleich kindlicher Bewegungsabläufe.
Trotz manch kritischer Einschätzung bringt das funktionelle Neuroimaging Vorteile für TherapeutInnen, auch in der Arbeit mit Kindern; denn man kann die visualisierten Funktionszusammenhänge im Denkorgan nutzen in einem verständnisvollen, freudvollen (Be-) Handeln neurodidaktisch ausgerichteter Settings.
3. Hirngerechtes (Be-) Handeln als "neurobiologisches Rezept" erhältlich, basierend auf der Erkenntnis von Neuroplastizität und Spiegelungsphänomenen?
Es lässt sich kein Behandlungskonzept direkt aus den Ergebnissen der Hirnforschung ableiten. Beachtet werden muss in erster Linie die ganzheitliche Kinderpersönlichkeit (holistisch; mit allen ihren sensorischen, motorischen, sozialen, emotionalen, kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten), bei der die Arbeitsweise des Gehirns zu berücksichtigen ist. Wir müssen erkennen (1.) WIE kindliche Gehirne normalhin arbeiten mit ontogenetisch-sukzessivem Ausbau bestimmter Areale, mit Abspeicherung von Erfahrungen als mentalen Repräsentationen in diversen Abschnitten der Großhirnrinde und einem ebenfalls erfahrungsabhängig wie reifungsbedingt forschreitenden Vernetzungs- und Verdichtungsgrad neuronaler Verbindungen; (2.) WO pathologische Verläufe beim jeweiligen kleinen Patienten liegen und (3.) WIE wir die Arbeitsweise seines Gehirns unterstützen können, so dass aus den Stärken des Einzelnen seine Fehlentwicklungen korrigiert resp. gemindert werden können unter der dringlichen Orientierung an den kindlichen Kompetenzen statt Defiziten (Kompetenzorientierung: siehe unten).
Lernen und Um-Lernen im rehabilitativen Bereich fußt auf dem Wissen um Neuroplastizität. Diese Formbarkeit betrifft neuronale Verknüpfungswege sowie Art und Anzahl mentaler Repräsentationen. Die Neuronen (1.) haben umformende Fähigkeiten (gegenwirkend zu krankmachenden Reizen; damit ankämpfend gegen chemische und strukturelle Negativveränderungen), (2.) passen sich den jeweiligen Erfordernissen an (durch Informationen ihre Aktivitäten verändernd), (3.) bauen lebenslang neue Verbindungen auf, (4.) reaktivieren vergessene Verbindungen, (5.) verfügen über adulte Neurogenese (nach Zinke-Wolter, 2001; erweitert von Jackel).
Außerdem gilt es, Spiegelneuronen (Bauer, 2006; Rizzolatti et al., 2007) zu nutzen, die in zahlreichen Hirnarealen vorkommen. Es gibt im Gehirn ein Netzwerk aus Handlungs-, Gefühls- und Empfindungsneuronen, die auch spiegeln können und zu intuitivem Erfassen befähigen.
Abbildung 1
Spiegelneuronen im Neocortex in Arealen für Motorik
Sie bilden im Neocortex ein weit verzweigtes Netzwerk überall dort, wo Programme für Handlungssequenzen (PM = prämotorischer Cortex samt Broca), dazugehörige Empfindungen oder Spürerfahrungen (inferiorer Scheitellappen: parietaler Assoziationscortex PASS A7) und Gefühlslagen (cingulärer Cortex; limbische Struktur bis anterior in den Frontalcortex) verortet sind; das heißt überall dort, wo motorische Prozesse ablaufen und zugehörige Gefühle entstehen. Zudem vermutet man sie im superioren Temporallappen (Hippocampus) und der anterioren Insula. Letztgenannte Areale sind in der Grafik nicht abgebildet, da die Spiegelneuronen ebendort nicht im Kontext von Sich-Bewegen, Sprechen und Musizieren zu betrachten sind. Spiegelzellen helfen maßgeblich dabei, die eigene Person wahrzunehmen als auch beobachtete Aktionen und Emotionen anderer Menschen nachvollziehen zu können; sogar den Ausgang gerade erst angesetzter Aktionen vorwegzunehmen.
- Handlungsneuronen finden sich im prämotorischen Cortex (PM) vom superioren supplementären motorischen Cortexareal (SMA) bis zum inferioren Brodman-Areal A44 und A45 (= Broca und Umgebung). In der Literatur findet sich scherzhaft und treffend die Bezeichnung "Asterix-Neuronen" (Bauer, 2006). Erscheinen sie doch insofern als intelligent, als sie zusammen mit ihrem umliegenden Zellverband über ein komplettes, erfahrungserworben abgespeichertes Handlungsprogramm verfügen im Gegensatz zu den reinen Bewegungsneuronen im motorischen Cortex (MI), den sogenannten "Obelix-Neuronen". Beim Initiiren einer Handlung setzen letztere ein bis zwei Zehntel Sekunden nach den Handlungsneuronen im prämotorischen Cortex ihre direkte Kontrollarbeit über die Muskelaktionen in Gang (siehe unten: Mainstream für Motorik). Bewegungsneuronen führen aus, was ihnen die Programme der Handlungsneuronen ansagen. Denn nur letztere spiegeln das gesamte Handlungsprogramm bis hin zum erwarteten Ergebnis der ganzen Aktion. Scans bildgebender Verfahren zeigen, dass sie auch beim rein beobachtenden Gehirn aktiv sind. Solches wird derzeit bereits in der Bewegungsinduktionstherapie für Schlaganfallpatienten an der Neurologischen Universitätsklinik Lübeck genutzt. Hier beobachten die Patienten gezielt Handlungen, die sie im Rahmen der krankengymnastischen Übung dann wieder-erlernen sollen (jeweils im 4-Minuten-Takt): Imitation und Re-Aktivierung.
- Gefühlsneuronen befähigen uns, unsere eigenen Gefühlslagen (unser emotionales Ich-Gefühl; Grundstimmung) und die anderer Menschen zu erfassen. Empathiefähigkeit als eine auf neurobiologischer Resonanz beruhende Mit-Reaktion in allen Lebenslagen gründet auf dem Vermögen, dass Gefühlsneuronen auch spiegeln. Dabei können nicht nur Mimik und Gestik, sondern auch die damit verbundenen Gefühle sich in gewissem Ausmaß von einem Menschen auf einen anderen übertragen; auch als gesundheitsförderliche Gefühlsübertragung von TherapeutIn hin zu PatientIn.
- Eine dritte Gruppe spiegelnder Nervenzellen wurde entdeckt, die Empfindungs- oder Spürneuronen im unteren Scheitellappen (inferiorer parietaler Assoziationscortex: PASS A7). Sie speichern Empfindungen des Körpers ab (= Spürinformationen), wie sie bei eigenem Agieren entstehen und können auch die Empfindungen beobachteter Menschen bei deren Handlungen dann im eigenen Körper hervorbringen. Wenn man weiß, wie es sich anfühlt, sich den Knöchel anzustoßen, kann man dieses beobachtete Missgeschick beim Mitmenschen buchstäblich mit-fühlen. Die Empfindungsneuronen in A7 melden jene Spürinformationen ihrerseits an Broca und Umfeld weiter, womit wir wieder bei den spiegelfähigen Handlungsneuronen wären, die als Beipack in ihrem Programm somit das zugehörige Handlungsempfinden mittransportieren.
Kinder lernen schnell über Imitation. Nachahmungshandlungen (z. B. gezieltes Ballwerfen / Essbesteck halten / Tanzen im frühen Kindesalter) können sogar sofort korrekt ausgeführt werden, ohne den betreffenden Ablauf vorher selbst auch nur einmal ausprobiert zu haben; natürlich unter Beteiligung visueller Areale mit guter optischer Differenzierungsfähigkeit. Auch die Sprachentwicklung verläuft über Imitationslernen. Beispielhaft sei angeführt, wie die Sprachsequenz "besser wie" oder "besser als" lebenslang stark änderungsresistent im Sprachgebrauch verbleibt je nachdem, wie man sie als Kind über Imitation gelernt hat. Je jünger die Kinder, desto weniger ausgebildet sind ihre Hemmungsmechanismen. Diese formen sich im Frontalcortex aus, der jedoch erst bis zur Adoleszenz hin ausgereift sein wird. Damit kommt bei jungen Kindern intuitivem Imitationslernen (und damit dem Spiegelneuronensystem) besondere Bedeutung zu.
4. Freudvolles Lernen und Overflow in der Dreierbeziehung von Sich-Bewegen, Sprechen und Musizieren
Weitere lernfördernde Determinanten innerhalb der o. g. Dreierbeziehung sind freudvolles Lernen und Overflows. Bei freudvollem Agieren springt das körpereigene Belohnungssystem an und führt zu Lustgefühlen und Antriebskraft, gefolgt von Lernen als positive Vernetzung im Frontalhirn und cortikalen Repräsentationen in den Gedächtnisarealen, was für eine gesunde Entwicklung unabdingbar ist.
Abbildung 2
Dopaminschleifen
Diese Freude am eigenen Tun und der intrinsische Motivationsschub gehen aus von der Dopaminschwemme im körpereigenen Belohnungssystem (Spitzer, 2002). Dopamin wird freigesetzt vom ventralen Nucleus tegmenti (A 10) und der Substantia nigra im Mittelhirntegmentum. Von dort sind bei Belohnung zwei dopaminerge Bahnungen möglich: Die Meso-Dopaminschleife zieht mit ihrer Zellbahnung vom Mittelhirntegmentum direkt zum Frontallappen. Hingegen verläuft die meso-limbische Dopaminschleife vorab über den Nucleus accumbens, eine Gefühlsstruktur (mit Lust auf so manches) ehe sie ebenfalls den Frontallappen erreicht; in beiden Fällen den orbitofrontalen Cortex. Dort bewirkt das Dopamin die Ausschüttung von endogenen Opioiden: positive Gefühle vermittelnd, Tatkraft verleihend und Neugier fördernd. PET-Messungen unter Verwendung von Tracern zeigen Dopaminkonzentrationen, wenn die Tracer an dopaminerge Rezeptoren andocken. Auch die fMRT visualisiert im Scan durch Rotfärbung die neuronal aktiven Areale der Dopamin-Schleife bei freundlichen Blicken, verbalen Aufmunterungen und Lob. Derzeit bildet sich Konsens unter Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen darüber, dass Dopamin eine wichtige Rolle spielt bei Belohnung und Lernen. Als therapeutische Konsequenz folgt daraus besonders für Kinder im Elementar- und Primarbereich: Begeisterungsfähigkeit, Bewegungsdrang und Freude als die kindlichen Ressourcen zu nutzen im täglichen Setting im Sinne einer Kompetenzorientierung für die Kleinen (Herrmann, 2004; Jackel, 2006a).
Overflow, auch als Transfereffekt, Cross-Training oder kreuzmodaler Einfluss in der Literatur beschrieben, meint aus neurophysiologischer Sicht betrachtet einerseits das Mit-Lernen in angrenzenden Hirnregionen aufgrund der Nervenverknüpfungen benachbarter Hirnbereiche untereinander. Denn Areale, die nahe beieinander liegen kommunizieren leicher und rascher miteinander als entfernt liegende (Singer, 2002). Andererseits entsteht der Transfereffekt durch den häufigen Gebrauch von Schnittarealen und gemeinsamen Hirnnervenbahnungen beim Bewegen (bes. manuellen Tätigkeiten) und Sprechen und Musizieren. Als solcher kann er zur Förderung eingesetzt werden in Prävention wie in Rehabilitation (Jackel, 2006a). Auch als simultane Reifungsprozesse kommen Overflows zwar oft vor (z. B. Laufenlernen bei gleichzeitigem Vokabelspurt Ende des 1. Ljs.), sind aber keineswegs zwingend (Njiokiktijen, 2003); kommt doch Apraxie mit und ohne sprachliche Retardierung als Komorbidität vor. Overflow von Bewegungs- und Sprachentwicklung als kreuzmodaler Prozess ergibt sich, weil Sprechen auch Bewegen bedeutet und der Sprechvorgang (myofunktionell) wie auch die Bewegung neuronale Schnittareale haben. Bislang gab es durchaus Autoren, die auf diese Transfereffekte hinwiesen und ihre Bedeutung für die präventive wie rehabilitative Arbeit sahen und sehen, jedoch benannten sie keine konkreten Schnittareale, die für Sprache bzw. Sprechen und Bewegen zugleich zuständig sind. Solches können jetzt Neurobiologen (Neuweiler, 2005) dank Neuroimaging, weil die beim Sprechen und Bewegen aktiven Hirnareale in PET und fMRT visualisierbar sind. Dazu kommt die Musik. Mit ihren Rhythmikmitteln kanalisiert / strukturiert sie Sprache und Bewegung, bildet Raum- und Zeitgitter zur Orientierung und hilft so dem Kind beim Aufbau seines Wirklichkeitsverständnisses (Bastian, 2003; Spitzer, 2006; Weinberger, 2006) im Elementar- und Primaralter besonders über die dopaminerge Motorikschleife bei Spielliedern mit dem Impulsgeber "Rhythmus" als Brückenglied.
5. Suche nach neuronalen Korrelaten für Sprache, Motorik und Musik
Der experimentelle neurowissenschaftliche Zugang zu neuronalen Korrelaten für Sprache mit seiner Möglichkeit direkter Introspektion in die Biochemie des Gehirns erlaubt vielfältigere Funktionszuweisungen bestimmter Sprachareale als bislang angenommen und eröffnet neue Einblicke in sprachbeteiligte Hirnbereiche, für die bislang andere Aufgaben im cerebralen Netzwerk angenommen wurden (Jäger, 2006). Neurobiologen entdeckten kürzlich eine Verbindung zwischen Broca und Wernicke über den Nervenstrang Fasciculus arcuatus. Laut bildgebender Messmethode bewirkt er, dass Wörter gleichzeitig artikuliert und verstanden werden können. Also arbeiten beide Regionen enger zusammen als bisher angenommen. Zudem ist Broca bei rascher Sinnentnahme gesprochener Sprache sogar aktiver als Wernicke – entgegen tradierten Vorstellungen (Ratey, 2003). Jedoch Vorsicht bei der experimentellen neurowissenschaftlichen Datenerhebung. Ihre Forschungsergebnisse sind nicht leicht und nicht immer eindeutig zu interpretieren. Hirnforscher selbst sprechen zurückhaltend von Hinweisen, selten von eindeutigen Nachweisen. Und eruierte Korrelationen sind noch keine Kausalbeziehungen. Es ist nicht auszuschließen, dass die im Folgenden erläuterten neuronalen Korrelate für Sprache, Motorik und Musik mit technischem Fortschritt im Neuroimaging zu einem späteren Zeitpunkt teils wieder revidiert und ergänzt werden müssen. Die Gesamtheit aller Verknüpfungswege zwischen Sprache, Motorik und Musik ist keineswegs erforscht. Jedoch ist derzeit durchaus neurowissenschaftlich aufzeigbar, dass Sprachproduktion, motorische Fähigkeiten und Musizieren auf gemeinsame neuronale Netzwrke zugreifen. Ich beschränke mich auf Schlüsselareale. Diese sind aus Abbildung 1 zu entnehmen als motorische Stukturen im Neocortex; denn Spiegelneuronen befinden sich vornehmlich in den Hirnarelen, die auch für die Triangulierung von Sprechen, Sich-Bewegen und Musizieren zugleich Schlüsselareale darstellen.
Mainstream für Sprache und Motorik:
Vorab wird im vorderen Gyrus cinguli (sekundäre limbische Struktur; siehe Gefühlsneuronen) entschieden, welche der hereinströmenden Informationen überhaupt an den präfrontalen Cortex durchgereicht werden zur Weiterplanung und Handlungsanweisung für den Output. Der prämotorische Cortex (PM) mit seinem supplementär-motorischen Areal und Brodman (A44 und A45; rund um Broca) setzt seine Handlungsprogramme für Bewegung in Gang und plant Handlungsverlauf und Ausgang (siehe spiegelnde Handlungsneuronen). Schließlich weist er die Bewegungsneuronen im motorischen Cortex an, die notwendigen Muskelanweisungen zu veranlassen. Der motorische Cortex löst Zehntelsekunden später unter Rückgriff auf die ihm zuarbeitenden Basalganglien die erforderlichen Bewegungen über passende Muskelanspannungen aus. Die Basalganglien unterstützen den motorischen Cortex als dessen basales Muskel-Voreinstellungswerkzeug aber nur bei großmotorischer Bewegung. Fingerfertigkeit und neue motorische Prozesse bewerkstelligt der motorische Cortex zusammen mit den spiegelnden Handlungsneuronen in Broca. Zusammengefasst heißt das für prämotorischen und motorischen Cortex, dass sie gemeinsam konkrete Handlungsabsichten initiieren, auch für kontrollierte Gesichts- und Artikulationsmuskeln.
Abbildung 3
Die parietale Assoziationsrinde im Scheitellappen als Verrechnungsort für Informationen aus dem Muskel- und Sehsinn zur
Raumerkennung
Hinzu kommt der Scheitellappen (sensorisches Cortexareal SI und parietaler Assoziationscortex PASS). Er ist (1.) beteiligt an Sensorik, Sprechen und Musizieren: In der parietalen Assoziationsrinde (PASS) laufen taktile und propriozeptive Analyseergebnisse aus der sensorischen Hirnrinde (SI) und Sehsinnessignale zur Raumerfassung (Nah-Fern-Informationen) zusammen. Denn einerseits übermittelt das sensorische Cortexareal seine Informationen an den posterior angrenzenden Assoziationscortex und andererseits liefert das Ende der sogenannten "Wo"-Bahnung der Sehverarbeitung im gleichen Areal auch die Endverarbeitung der optischen Signale zur Raumwahrnehmung. Nur wer über ein sicheres Körperschema und Raumlagenvorstellungen verfügt, kann tanzen. Und nur, wenn die Konstruktion einer dreidimensionalen Welt im Scheitellappen gelungen ist (über ausreichend Bewegungen im realen Raum), kann derjenige auch mit Raumlagebegriffen als adverbiale Bestimmungen des Ortes verbal sicher umgehen. (2.) Der Scheitellappen ist weiterhin beteiligt an Motorik und Sprechen. In Zusammenarbeit mit den Basalganglien holt er erinnerte Hand- und Sprechbewegungen (sequentielle Reihenfolgebewegungen) aus der Langzeitspeicherung als Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses hervor. Aber nur die Zusammenarbeit mit Broca generiert Wörter und Sätze. Der Scheitellappen kann nicht als primäres Sprachareal bezeichnet werden. (3.) Der Scheitellappen ist beteiligt an (Körper-)Empfindungen aus eigenem Handeln (siehe Abbildung 1: PASS A7 und seine Empfindungsneuronen), die wiederum ihre Spürerfahrungen an die Handlungsneuronen in Broca rückmelden.
Broca stellt ein weiteres, ganz wichtiges Schnittareal von Sprechen, manuellen Bewegungen und Musizieren dar. Schläfenwärts gelegen lässt es sich nicht wirklich scharf abgrenzen von anderen prämotorischen Gebieten, da es individuell unterschiedlich groß ausfällt. Für unseren Kontext ist wesentlich: Es enthält Spiegelneuronen in Form von Handlungsneuronen (siehe oben) für Imitationslernen. Sie sind einerseits beteiligt am Sprechenlernen über Imitation. Broca bewirkt zudem, dass einzelne motorische Anweisungen bereitgehalten und in variabler Reihenfolge zusammengeknüpft werden können, gelernte Regeln befolgend wie bei der Grammatik; als feste Algorithmen und sequentielle Reihenfolgebewegungen. Wie bereits oben erwähnt, sind die Handlungsneuronen andererseits auch beteiligt am Bewegungslernen über Imitation. Für den Neurobiologen Gerhard Neuweiler (2005) ist es gut vorstellbar, dass gerade diese Handlungsneuronen in Broca (außer der Bewegungsbeteiligung des motorischen Cortex an der Fingerfertigkeit) das Fundament bilden, um über die Pyramidenbahn präzise abgestimmte und kleinste Bewegungen anzuweisen und so komplexe Bewegungsabläufe zu erlernen. Dass Broca auch bei Hand- und Fingeraktivitäten und Rhythmikerfassung involviert ist, stellte sich erst in jüngster Zeit heraus und macht es so spannend für kreuzmodales Fördern von Sprechen, Bewegen und Musizieren (Sprechzentrum und Rhythmikwahrnehmung, siehe Folgekapitel). Damit erscheinen rhythmische Klatsch- und Fingerspiele als vortreffliche Übungen, dieses Areal vielfältig zu stimulieren und hinsichtlich kreuzmodaler Förderung zu nutzen.
Außer den bislang ausführlich beschriebenen Schnittarealen soll auch die Direktverbindung zwischen Neocortex und Zielmuskel, die cerebro-spinale Bahnung, erwähnt werden. Ihre Fasern kommen aus dem prämotorischen und motorischen Cortex sowie dem Scheitellappen und enden an den Motoneuronen des Zielmuskels. Im Rückenmark steuern die Fasern der Pyramidenbahn Motoneuronen, welche Mund- und Rachenmuskulatur sowie die Muskeln in Fingern, Händen, Armen und Schultern kontrollieren. Unsere Beine sind über die Direktbefehle aus dem Neocortex wesentlich sparsamer versorgt. Das leuchtet ein, bedenkt man die räumliche Nähe und besondere Größe der neuronalen Repräsentationsfelder für Handsensorik und Myofunktion in der sensorischen wie motorischen Hirnrinde. Für lange Zeit galt diese Pyramidenbahn als oberste Stelle der Motorik. Heute weiß man, dass die Hirnrinde zwar das Exekutivorgan ist, jedoch die Handlungen bereits zuvor in den Motivationszentren gedacht, im limbischen System emotional eingeordnet und mittels Kleinhirn präzisiert sind. Denn bereits beim Denken von Bewegungen zeigt das EEG Erregungswellen. Bei der Motorik geht der neuronale Verlauf außer über die Pyramidenbahn auch in Richtung Kleinhirn mit einer regulierenden Rückkopplung zum prämotorischen und motorischen Cortex, besonders beim Erlernen neuer Aktivitäten. Das Kleinhirn sorgt bei motorischer Fehlhandlung für Bewegungspräzision; auch für Koordination der Kehlkopfmuskeln. Nur, wir verstehen derzeit noch nicht wirklich, wie es das letztlich alles bewerkstelligt. Deshalb: Zurück zu Schlüsselarealen für Sich-Bewegen, Sprechen und Musizieren.
Mainstream für Musik:
Wenn wir Musik hören oder selbst musizieren, sind etliche weit verteilte Hirnareale aktiv, auch solche, die sich normalerweise mit anderen kognitiven Prozessen befassen. Ein spezielles Musikzentrum gibt es nicht. Auch ändern sich die an Musik beteiligten Hirnareale in Abhängigkeit von Erfahrung und musikalischer Betätigung (sensor. Repräsentationen; Hörgewohnheiten; Schaller, Weinberger, beide 2006). Sprache und Musik sind die differenziertesten und komplexesten Reizsysteme im akustischen Bereich. Sie wollen beide etwas mitteilen, haben Syntax / Regeln für die passende Kombination ihrer Elemente, wofür in beiden Fällen anscheinend Broca und Wernicke zuständig sind (Duesing & Ruckdeschel, 2006). Für andere Schritte der Verarbeitung von Sprache und Musik gilt Ähnliches; auch hier gibt es Schnittareale. So sind beim Musizieren außer der Hörrinde auch sensorischer und motorischer Cortex und Kleinhirn angeregt, grenzt doch die motorische Hirnrinde (MI) an die primäre Hörrinde (dorsal im oberen Bereich des Temporallappens); Hippocampus und Areale der Langzeitspeicherung und limbische Strukturen und nicht zuletzt Broca und Scheitellappen für Rhythmusimpulse (siehe oben). Musik stimmt unser Gehirn neu; denn es ändern sich die an Musik beteiligten Hirnareale abhängig von Hörerfahrungen (konsonante oder dissonante Klänge) und musikalischer Betätigung (Ausformung des sensorischen und motorischen Cortex in den Arealen für die Finger; siehe Neuroplastizität). Musik als harmonische Klangfolge wird vom Thalamus besonders gut aufgenommen und weitergeleitet, wirkt doch sie gerade bei jungen Kindern anregend auf das dopaminerge Funktionssystem. Ihr Gefühlserleben von Musik funktioniert unabhängig vom aktiven Musikverstehen. Besonders bei Kindern ist Musik in der Regel nicht mit negativen Assoziationen belastet; denn schimpfende Eltern singen nicht. Und noch eine Beobachtung aus meinen 32 Jahren schulpraktischer Erfahrung mit Kindern im Primarbereich: Nicht der sogenannte "Mozart-Effekt" stimmt ein auf effizientes Lernen, sondern die Kombination aus konsonanten Melodien und passender Bewegung. Sie wirkt als dopaminerge Rhyrhmikschleife und hilft freudvoll zu lernen. Abschließend ein Denkanstoß: Weshalb sind junge Kinder besonders begeistert von Volks- und Blasmusik? Falls Sie sich nicht klar sind über die Gründe, gehen Sie bitte zurück zu Broca und dessen Beteiligung an Syntax und klaren Strukturen, welche die Weltorientierung erleichtern.
Fazit: Ohne speziellen therapeutischen Settings im logopädischen wie physiotherapeutischen Bereich in irgendeiner Form vorgreifen zu wollen (dafür bin ich nicht profressionalisiert), bieten sich m. E. spielerische Bewegungsformen mit Sprechanlässen an (gebunden in einen Rhythmus) als basale Orientierungshilfen, besonders im Elementar- und Primaralter, da ontogenetisch betrachtet die senso-motorische Entwicklung in diesem Lebensabschnitt ohnehin im Vordergrund steht. Sich-Bewegen und Musizieren werden im gleichen cerebralen Netzwerk verarbeitet mit neuronalen Schnittarealen, die es vielseitig zu beüben gilt. Im Zusammenspiel dieser Tätigkeiten bekommt das Kind auditive, visuelle, taktil-propriozeptive und vestibuläre Anregungen und Rückkopplungen, die für seine ganzheitliche Entwicklung notwendig sind.
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Adressen im Internet :
(Da Internetadressen sich oft ändern, erfolgen diese Angaben ohne Gewähr.)
http://www.sophie-scholl-berufskolleg.de
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